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Baye? Hier spricht Detective Schlich.«
Die große Polizistin aus dem Krankenhaus. Wieder erfasste sie neue Angst. Man sollte meinen, sie könnte irgendwann nicht mehr wachsen, aber man stumpfte einfach nicht ab. »Ja?«
»Wir haben das Handy Ihres Sohnes in der Nähe des Ortes gefunden, an dem Ihr Mann überfallen wurde, in einem Mülleimer.«
»Also war er da?«
»Ja, aber davon sind wir auch vorher schon ausgegangen.«
»Und jemand hat ihm das Handy geklaut.«
»Das ist eine andere Frage. Wir nehmen eher an, dass jemand – wahrscheinlich Ihr Sohn selbst – Ihren Mann dort gesehen hat, daraufhin durchschaut hat, wie er da gefunden werden konnte, und das Handy einfach weggeworfen hat.«
»Aber das ist nur eine Vermutung.«
»Ja, Mrs Baye, das ist nur eine Vermutung.«
»Trägt diese Entwicklung dazu bei, dass Sie den Fall jetzt ernst nehmen?«
»Wir haben ihn von Anfang an ernst genommen«, sagte Schlich.
»Sie wissen schon, was ich meine.«
»Ja. Hören Sie, wir nennen die Straße die Vampirmeile, weil da tagsüber niemand unterwegs ist. Absolut keiner. Aber heute Abend, wenn die Clubs und die Bars wieder öffnen, dann werden wir hingehen und ein paar Fragen stellen, okay?«
Heute Abend? Das waren ja noch Stunden.
»Wenn sich bis dahin noch irgendetwas ergibt, melde ich mich bei Ihnen.«
»Danke.«
Als Tia das Handy zur Seite legte, sah sie, dass ein Auto ihre Einfahrt heraufkam. Sie trat ans Fenster. Betsy Hill, Spencers Mutter, stieg aus und ging auf die Tür zu.
Ilene Goldfarb wachte am frühen Morgen auf und schaltete die Kaffeemaschine an. Sie schlüpfte in den Morgenmantel und die Hausschuhe und ging die Einfahrt hinunter, um die Zeitung zu holen. Herschel, ihr Mann, lag noch im Bett. Ihr Sohn Hal war gestern bis tief in die Nacht unterwegs gewesen, wie es sich für einen Teenager im letzten Jahr der Highschool gehörte. Hal hatte seine Zulassung für Princeton, die Universität, auf der sie auch gewesen war, schon in der Tasche. Er hatte hart gearbeitet, um sie zu bekommen. Im letzten halben Jahr ließ er jetzt ein bisschen Dampf ab, und sie hatte nichts dagegen einzuwenden.
Die Morgensonne erwärmte die Küche. Ilene saß mit untergeschlagenen Beinen auf ihrem Lieblingsstuhl. Sie schob die medizinischen Zeitschriften zur Seite. Das war ein ziemlicher Stapel –
sie waren nicht alle für sie, die namhafte Transplantationschirurgin, sondern auch für ihren Mann, der im Valley Hospital in Ridgewood arbeitete und als der beste Herzspezialist im Norden New Jerseys galt.
Ilene trank einen Schluck Kaffee. Sie las die Zeitung. Sie dachte an die einfachen Freuden im Leben und wie selten sie die Gelegenheit hatte, ihnen zu frönen. Sie dachte an Herschel, der oben noch schlief, wie attraktiv er gewesen war, als sie sich während ihres Medizinstudiums kennen gelernt hatten, wie ihre Ehe der irren Arbeitsbelastung und den Härten des Medizinstudiums standgehalten hatte und auch die Praktika, die Zeiten als Assistenzärzte, die chirurgischen Weiterbildungen, die viele Arbeit überstanden hatte.
Sie dachte an ihre Gefühle für ihn, die im Lauf der Zeit nachgelassen und sich in etwas verwandelt hatten, das sie als durchaus angenehm empfand, und gleichzeitig daran, wie Herschel sie aufgefordert hatte, sich zu setzen und eine »Trennung auf Probe« vorgeschlagen hatte, jetzt, wo Hal drauf und dran war, das Nest zu verlassen.
»Was ist noch übrig geblieben?«, hatte Herschel gefragt und die Hände ausgebreitet. »Wenn du an uns als Paar denkst, was ist dann noch davon übrig geblieben, Ilene?«
So allein in der Küche, nur knapp zwei Meter von der Stelle entfernt, wo der Mann, mit dem sie seit vierundzwanzig Jahren verheiratet war, ihr diese Frage gestellt hatte, klangen ihr diese Worte immer noch in den Ohren.
Ilene hatte sich immer wieder angetrieben, sie hatte so hart gearbeitet, sie war immer aufs Ganze gegangen und hatte alles bekommen: die unglaubliche Karriere, die wunderbare Familie, das große Haus, Respekt von Freunden und Kollegen. Und jetzt fragte ihr Mann sie, was noch übrig geblieben war. Und hatte er nicht Recht? Dieses Nachlassen der Gefühle war so langsam verlaufen, so allmählich, dass sie es gar nicht richtig mitgekriegt hatte.
Oder nicht hatte mitkriegen wollen. Oder mehr gewollt hatte. Wer wusste das schon?
Sie sah zur Treppe. Sie war versucht, sofort wieder nach oben zu gehen, zu Herschel ins Bett zu kriechen und stundenlang mit ihm zu vögeln, wie sie das vor
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