Sie und Er Botschaften aus parallelen Universen
erfolgreich zu sein. Man braucht nicht nur ein gutes Gedächtnis, man muss zuweilen – wie jeder gute Trainer – auch noch Buch führen, damit auch bei Hektik Spiel und Wirklichkeit nicht durcheinandergeraten.
Mittels der Magnetresonanztomographie kann man seit Kurzem aufzeigen, dass beim Lügen erheblich mehr Bereiche des Gehirns aktiv sind als bei Äußerungen der Wahrheit.
Scheinbar macht man sich also weniger Arbeit, wenn man die Wahrheit sagt. Sind Leute, die die Wahrheit sagen, faul, geben die 102
sich keine Mühe? Jedenfalls wird die mo-derne Technik bald den weniger guten alten Lügendetektor ablösen, und dann wird es wohl für den einen oder anderen kriminellen Lügner eng.
Aber auch für uns Normallügner, die es nicht in betrügerischer Absicht, sondern aus Not oder Rücksichtnahme tun, könnte der Spielraum empfindlich begrenzt werden.
Wissenschaftliche Errungenschaften auf technischem Gebiet werden ja gerne in kleine Geräte für den Hausgebrauch umgesetzt, wie die Mikrowelle für die Küche oder das satellitengestützte Navigationssystem fürs Handtäschchen, und es ist wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, bis eines Tages ein kleiner Apparat auf den Markt kommt, den man sich wie einen Sticker an die Jacke hef-tet oder als Ohrclip trägt und der zu blinken beginnt, wenn sein Träger lügt.
So ein kleiner Ansteck-Knopf hätte sicher dramatische Folgen für persönliche Beziehungen. Ich höre schon den Satz: ›Liebling, schalt mal deinen Stick an, ich muss mit dir reden‹. In Berufsgruppen, die mit dem Verkauf beschäftigt sind wie z. B. Gebraucht-wagenhändler, Anlageberater und Versiche-rungsagenten, würde er vermutlich zu erheb-lichen finanziellen Einbußen führen. Was den Schulalltag betrifft, darf man gespannt sein, ob es die Lehrer oder die Schüler sind, die sich weigern werden, ihn zu tragen. Und Politiker, oha, die werden sich das Hing wahrscheinlich erst anheften, wenn der Ausgang einer Wahl davon abhängt.
Ich freu mich schon auf die öffentliche Dis-103
kussion darüber, ob auch die Vertreter der Religion das Gerät tragen sollten. Meine katholische Freundin, die ich während der Pubertätsjahre einmal zur Beichte begleitete, beantwortete meine Frage, was sie denn zu beichten habe, mit »Nichts, das mach ich nur, weil meine Mutter darauf besteht.« Ich fragte neugierig weiter: »Ja, und was sagst du dem Beichtvater gleich?« »Ach«, sagte sie, »ich sage einfach, ich hätte gelogen.
Lügen geht immer.«
Ich fürchte, in solchen Momenten wird der Stick wohl durchknallen.
ER Lügen
Wenn die Frau sagt: »Wie findest du meine neue Frisur?«, dann sagen wir natürlich:
»Toll, Schatz.« Der komplette Satz, dessen zweite Hälfte wir aber nur denken, lautet:
»Toll, Schatz, 100 Euro im Arsch und es sieht genauso scheiße aus wie vorher.«
Das ist nach übereinstimmender Auffassung eine bewusste Falschaussage, aber aus höheren Beweggründen, nämlich Höflichkeit und Rücksichtnahme. Das Beispiel fällt also in die Klasse der Notlügen, die in der ange-wandten Ethik durchaus wohlwollend betrachtet werden, ermöglichen sie doch viel-fach ein einigermaßen erträgliches Miteinander. Wenn der Mann aus unserem Dialog-beispiel irgendwann zu der Auffassung ge-langt, dass er kein Miteinander in dieser Konstellation mehr will, weil er z. B. in ab-sehbarer Zeit erben wird und nicht teilen möchte oder eine andere Frau hat oder sich 104
sexuell ganz neu orientieren möchte, mag der Verzicht auf Notlügen bzw. die laute Vervollständigung von Sätzen wie oben ein probates Mittel sein.
Manchmal ist die Unterscheidung auch
schwierig. Wenn ein Politiker sagt: »Wir werden die Arbeitslosigkeit deutlich sen-ken« – ist das dann eine Notlüge aus Be-rechnung, weil er natürlich im Amt bleiben oder gewählt werden will, oder haben wir es hier schon mit einem berufsbedingten
Krankheitsbild zu tun, der sogenannten Pseudologia phantastica, der Neigung, phan-tastische, jedoch z. T. glaubwürdige Geschichten zu erzählen? Überlassen wir das Urteil den Psychologen. Wir Normalbürger jedenfalls geraten andauernd in Situationen, in denen wir aus Pietät und Takt flunkern müssen. Bei einer Grabrede zum Beispiel.
Da sagt man: »Viel zu früh hat es diesen stets auch weltzugewandten Visionär aus unserer Mitte gerissen.« Und nicht: »Ein Glück, dass dieser ewig besoffene Spinner endlich den Arsch zugekniffen hat.«
Man fährt fort: »Sein herzliches Verhältnis zur Belegschaft ist ebenso
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