Sie und Er
überzeugt bist.«
»Ich gebe Ihnen die Kataloge mit, dann können Sie schon die Maße studieren.« Der Besitzer oder Geschäftsführer geht vor ihnen her zur Treppe ins Parterre.
Als sie wieder in der Gluthitze auf der Straße stehen, fühlt sie sich vorübergehend erleichtert, als wäre ihre Hinrichtung zumindest um einige Stunden aufgeschoben. An Stefanos Arm schaut sie auf den lärmenden Verkehr, die Schilder, das Hin und Her auf dem Gehsteig. Jede Bresche zwischen Menschen und Autos kommt ihr vor wie eine Fluchtgelegenheit, die sich aber ständig verschiebt und daher schwer zu ergreifen ist.
Es gibt mehrere Arten, um herauszufinden, ob das, was man geschrieben hat, etwas taugt
Es gibt mehrere Arten, um herauszufinden, ob das, was man geschrieben hat, etwas taugt: eine davon ist, den Text ein paar Wochen beiseitezulegen und ihn dann wieder zu lesen, als wäre es das Werk eines anderen. Natürlich funktioniert das nie wirklich, man brauchte Jahre, um all die kleinen Bausteine zu vergessen, die man zusammengetragen hat, Bild für Bild, Grundgedanke für Grundgedanke, Stilmittel für Stilmittel, Ungenauigkeit für Ungenauigkeit, Satz für Satz, Seite für Seite. Eine weitere Möglichkeit ist, den Text jemandem zu geben, der einem sehr nahe steht, am besten einer Frau, die bereit ist, ihn unbeeinflusst und unvoreingenommen zu lesen, und danach ihre Eindrücke anzuhören, ohne ihr freundschaftliche oder diplomatische Filter zu gestatten.
Doch ihm steht im Augenblick keine solche Leserin zur Verfügung, und schon der Gedanke, sich hinzusetzen und die Seiten wieder durchzugehen, an denen er monatelang umsonst gearbeitet hat, verursacht ihm Übelkeit. Trotzdem zwingt er sich, am Tisch vor dem offenen Fenster, durch das Hitze und Lärm hereinkommen, die Seiten zur Hand zu nehmen, die der hinter einem alten Sessel verborgene Laserdrucker blitzschnell ausgespuckt hat. Er liest etwa eine Stunde, die häufigen Unterbrechungen mitgerechnet, wenn er aufsieht, um die Fassade des Hauses gegenüber zu betrachten: den Balkon, wo die Pflanzen vertrocknet sind, weil vielleicht die automatische Bewässerungsanlage kaputt oder der Besitzer gestorben ist, und das unnatürliche Weiß des Mailänder Himmels gleich darüber. Hinter ihm rattert auf Hochtouren ein Ventilator, den er aus reiner Verzweiflung am Tag zuvor gekauft hat, wirbelt aber nur die glühende Luft etwas durcheinander. Der Schweiß rinnt ihm über die Stirn, den Hals und den nackten Bauch, und ab und zu nimmt er einen großen Schluck aus der Flasche Mineralwasser, die vor ihm steht, um den Flüssigkeitsverlust auszugleichen und die Bitterkeit zu verdünnen, die in seinem Blut zirkuliert.
Als er aufhört, scheint ihm, dass das Gelesene nichts Gutes enthält: Die seltenen interessanten Ansätze verlieren sich in einem Gewirr falscher Absichten, verfehlter Ziele, richtungsloser Überlegungen. Der ganzen geistigen Landschaft, die er mit so viel Ausdauer zusammengestückelt hat, fehlt es an Notwendigkeit, an Schwung, Begehren, Vergnügen, Überraschung, Risiko und Freude. Es sind nur Wörter, Wörter, Wörter, die durch die technische Meisterschaft, mit der er sie aneinandergereiht hat, nur noch irritierender wirken: Da ist keine Lebendigkeit, kein Grund, der ihn anregt, die Reise fortzusetzen, zu entdecken, wo sie hinführt.
Ein paar Minuten bleibt er noch in der unerträglichen Hitze sitzen, dann springt er auf, stößt einen heiseren Schrei aus, bei dem ihn die Stimmbänder schmerzen, knüllt die ausgedruckten Seiten einzeln zusammen und wirft sie in den großen Papierkorb aus Palmblättern unter dem Schreibtisch. Die Dramatik der Szene wird durch die Wiederholung stark abgeschwächt, auch weil der Originaltext sowieso als Datei im Computer auf dem Schreibtisch überlebt. Es ist bloß ein lächerliches Theater, um den vernünftigen Teil seines Selbst zu beeindrucken, der täglich die Launen des unvernünftigen Teils mit ansieht. Sowieso besteht seine Arbeit ja seit je aus dem Versuch, eine schizophrene Haltung zu kultivieren: durch den ständigen Wechsel von Betroffenheit und Distanz, Anteilnahme und Loslösung, Handlung und Betrachtung; hinein und hinaus, hinein und hinaus.
Befremdlich ist nur, dass es ihm, abgesehen von dem Gefühl der Frustration, fast egal ist. Denkt er an die Verbissenheit, mit der er vor zwei Monaten zu schreiben versuchte, oder im vorigen Monat oder sogar noch vor vierzehn Tagen, kommt ihm das recht erstaunlich vor. Er weiß zwar nicht
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