Sie und Er
herauskotzen, was sie in sich hat.
Minutenlang sitzt sie auf dem Boden und ringt nach Luft; weitere Minuten lehnt sie sich an das Waschbecken und atmet ganz langsam. Sie fühlt sich von allen Seiten belagert, von Alberto, von Stefano und von Daniel Deserti, jeder mit seinen eigenen Forderungen, seinen eigenen Strategien, sie zu verändern oder zu vereinnahmen. Am liebsten würde sie durch eine Falltür im Boden in einen unterirdischen Geheimgang verschwinden und davonlaufen, irgendwie nach Italien zurückkehren, sich schnellstens in ihr Häuschen an der Küste flüchten, das Alberto verunstalten wollte, auf das Stefano eifersüchtig ist und wo Daniel Deserti sie aufgestöbert hat, um ihr Leben noch komplizierter zu machen, als es sowieso schon war. Oder sie könnte die ganze Nacht hier im Bad bleiben, ein Handtuch auf den Boden legen und darauf schlafen, falls sie das überhaupt kann in dieser Hitze, in diesem verwirrten Zustand, zu dem sich jetzt auch noch die Verlegenheit gesellt, und dann im ersten Morgenlicht herausschlüpfen.
Stattdessen zieht sie an der Spülung, wäscht sich das Gesicht, spült den Mund aus, putzt sich die Zähne: Danach trocknet sie sich langsam ab, mustert sich in dem kleinen Spiegel, ohne sich ganz zu erkennen. Sie trinkt aus dem Wasserhahn, die Hände zu einem Kelch geformt, in großen Zügen. Noch einmal trocknet sie sich das Gesicht ab, schaut in den Spiegel: Wieder wundert sie sich über das Gesicht, das sie sieht. Zuletzt öffnet sie die Tür, tritt wieder in das halbdunkle Zimmer und nähert sich mit unsicheren Schritten dem Bett.
Er liegt auf dem Rücken, richtet sich halb auf: »Alles in Ordnung?«
»Ja.« Sie zögert, setzt sich auf die andere Seite des Bettes, streckt sich allmählich aus. Ihr ist, als sei sie völlig leer: Essen, Flüssigkeiten, Energie, Ideen, Motivationen, alles weg.
»Ist dir noch schlecht?«, fragt er. »Soll ich hinuntergehen und dir etwas holen?«
»Nein, nein, schon vorbei.« Tatsächlich ist die Übelkeit ganz verschwunden, zusammen mit allem anderen.
»Willst du nicht ein Glas Wasser oder so?«, sagt er.
»Ich habe schon einen Liter aus dem Wasserhahn getrunken, danke.« Dass die Nacht diese Wendung genommen hat, mildert wenigstens teilweise ihre Schuldgefühle gegenüber Stefano, dafür ist das Atmen anstrengender, der Herzschlag langsamer als normal.
Sie liegen beide still da, jeder auf seiner Seite.
»Tut mir leid«, sagt er nach einer Weile.
»Was?« Ihre Stimme klingt heiser.
»Dass ich diese Wirkung auf dich hatte.« Er lacht, aber sein Ton ist untröstlich.
»Du doch nicht«, sagt sie. »Das muss die Focaccia von der Raststätte gewesen sein, der Wind, die Hitze, was weiß ich.«
»Es ist die Situation«, sagt er. »Das weißt du genau.« Sie bringt nicht die Kraft auf, es abzustreiten: »Ja, vielleicht.«
»Und die Situation habe ich herbeigeführt«, sagt er.
»Waren wir da nicht beide beteiligt?« Stimmt das denn überhaupt, fragt sie sich; im Moment hat sie wirklich keine Ahnung.
»Jedenfalls habe ich sie kaputtgemacht«, sagt er.
»Wieso?« Jetzt fragt sie sich, ob er nicht einen ehrenvollen Ausweg sucht, um wenigstens sein Selbstbild zu wahren.
»Weil ich es nicht erwarten konnte, dir viel zu nahe zu kommen«, sagt er.
»Wieso zu nahe?« Sie glaubt zu spüren, was er meint, ist aber nicht sicher; nichts ist sicher, nicht einmal, ob sie es wirklich wissen will.
»Die Distanz mit einem Schlag aufzuheben«, sagt er. »Weil wir uns ja eigentlich nicht kennen.«
»Na gut, wir sind aber zusammen hergekommen«, sagt sie. »Du hast mich doch nicht mit Gewalt entführt.«
»Einverstanden, aber dann?«, sagt er. »Der Druck, meine animalische Beharrlichkeit?«
»So beharrlich warst du gar nicht.« Sie fragt sich, ob sie tatsächlich ein anderes Tempo bevorzugt hätte, ob sie sich nicht doch teilweise darauf verlassen hatte, dass er sich als Macho verhalten würde, aus Bequemlichkeit oder Feigheit, um sich nicht verantwortlich fühlen zu müssen.
»Immer das alte, unerträgliche Rollenspiel«, sagt er, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
»Hör mal, vielleicht sind wir zu müde, um jetzt darüber zu reden«, sagt sie. »Nach der langen Fahrt, dem Arbeitstag, und außerdem habe ich schon nächtelang kein Auge zugetan.«
»Ich auch nicht«, sagt er. »Aber für so ein barbarisches Verhalten gibt es keine Rechtfertigung.«
»Versuchen wir zu schlafen, okay?« Sie weiß nicht, wie sie auf seine gnadenlosen Selbstanklagen
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