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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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Stamm, eine Lorbeerhecke, die den Garten von einem mit hellen Steinplatten gepflasterten Hof trennt, wo einige Tischchen stehen. Die Grillen zirpen einen raffinierten Rhythmus; der Kontrast zwischen dem Frieden der Nacht rundherum und den ungelösten Verwicklungen im Zimmer könnte nicht stärker sein.
    Tief atmet Clare die süßen Düfte ein, die in der Luft liegen, doch anstatt sich zu beruhigen, wird sie immer angespannter. Fast merkt sie nicht, dass sie spricht: »War das deine Exfrau?«
    »Wer?«, sagt er.
    »Die von vorhin.« Sie macht eine unbestimmte Handbewegung Richtung Tür. »Nicole?«, sagt er.
    »Mhm.« Sie bereut es schon, dass sie gefragt hat.
    »Nein.« Er lacht. »Wahrhaftig nicht.«
    Sie kann sich nicht zurückhalten: »Und wer ist sie dann?«
    »Eine Freundin«, sagt er.
    Eine nichtssagendere Antwort wäre wohl kaum möglich gewesen, findet sie; sie trinkt noch einen Schluck, aber der Wein schmeckt jetzt so herb, dass sie ihn kaum runterbringt.
    »Nicole und Martin haben dieses Haus vor fünf Jahren übernommen«, sagt er. »Keiner wollte es, zu aufwendig. Deshalb konnten sie es für wenig Geld kaufen und haben es selbst hergerichtet, eigenhändig.«
    »Hattet ihr mal was miteinander?« Clare ist verlegen, dass sie so offen fragt, aber eine innere Stimme drängt: Erklär’s mir, erklär’s mir.
    »Ja«, sagt er nach ungefähr zwei Sekunden. »Warum?«
    »Nur so.« Das Blut steigt ihr in den Kopf, sie fühlt ihre Wangen glühen in der Dunkelheit.
    »Wir haben sofort gemerkt, dass es mit uns nicht funktioniert«, sagt er.
    »Wie das?« Ihr Ton sollte nach unbeteiligtem Interesse klingen, offenbart aber mindestens teilweise ihre hochgradig widersprüchlichen Gefühle: Kränkung, Anziehung, Eifersucht, Verlangen, Gereiztheit.
    »Na ja, es kommt auf die Charaktere und den richtigen Zeitpunkt an, nicht wahr?«, sagt er. »Darauf, was du suchst, was du willst und warum.«
    »Kann sein.« Sie fragt sich, was sie wohl in ihm oder durch ihn finden wollte oder finden zu können glaubte, als sie eingewilligt hat, hierherzukommen.
    Sie schweigen, aus dem Fenster gelehnt, Schulter an Schulter, aber ohne sich anzusehen; sie nippen ein paarmal an dem Rose, der rasch lauwarm wird. Dann plötzlich wendet er sich ihr zu, legt ihr die Hände auf die Hüften und zieht sie an sich, küsst sie auf den Mund. Sie kann gerade noch das Glas auf dem Fensterbrett abstellen; das große, von dem Streifen Mondlicht durchschnittene Zimmer dreht sich um sie herum. Sie küssen sich lange, verwirrt und atemlos, gehen rückwärts auf dem Boden, der unter ihren Füßen bebt, fallen aufeinander auf das niedrige Bett, rollen über die Tagesdecke aus grober weißer Baumwolle. Seine Hände streifen Clare die leichten Kleider ab, zart, aber stetig, geübt. Sie schiebt seine Kleider weg, langsam, staunend, wie anders als Stefanos dieser Körper ist, den sie entdeckt: die Proportionen, das Gewicht, die Beschaffenheit. Auch sein Geruch ist anders, die Oberfläche seiner Haut, seine Haare, sein Atem, der Geschmack seines Mundes, seine Art, die Zunge zu bewegen.
    Die Kleider segeln in verschiedenen Richtungen auf den Fußboden, auch die grobe Tagesdecke landet dort. Sie und er küssen sich und berühren sich, reiben sich und drücken sich, Körper an Körper, Atem an Atem, erhitzt, verschwitzt, keuchend, hin- und hergerissen zwischen Beklommenheit, Verlegenheit, Begehren, Widerstreben, Leichtsinn, Ungeduld, Neugier, Lust, Verlangen, Angst.
    Dann fühlt sie eine Welle wachsender, universeller Verunsicherung in sich aufsteigen, die ihr in zwei Sekunden Herz und Magen abschnürt. Sie befreit sich von seinen Lippen, seinen Händen, Armen und Beinen, schiebt ihn zurück, rollt zur Seite, setzt sich hastig am Bettrand auf.
    »Hey, was ist los?« Leicht keuchend beugt er sich zu ihr.
    »Nichts.« Sie versucht, tief durchzuatmen, doch die Welle universeller Verunsicherung steigt weiter, immer heftiger, und schwemmt Bruchstücke von Bildern, Stimmungen und Wahrnehmungen an, einige erkennbar, andere nicht: Gesichter, Orte, Gegenstände, Augenblicke, Motive, Namen.
    »Hallo?« Er streckt die Hand aus, berührt vorsichtig ihre Schulter.
    Sie springt auf, läuft zur Badtür, schlägt sie zu, erreicht das Klo und übergibt sich, und wegen der Peinlichkeit der Situation und der Geräusche, die sie macht, wird ihr immer übler. Aber sie kann nichts dagegen tun: Sie spuckt immer weiter, als müsse sie zusätzlich zum Inhalt ihres Magens auch alles Übrige

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