Sie und Er
Hitze nachlässt: Sie hängt in der Luft, lastet auf ihren Körpern und Gedanken, erdrückt jede Empfindung.
»Wie viel Grad hat es jetzt nach dem Gesetz von Dolbear?«, sagt er.
»Weiß ich nicht.« Es wundert sie, dass er sich noch daran erinnert.
»Du hast bloß keine Lust zu zählen«, sagt er. »Kann sein«, sagt sie. »Und du, hast du Lust dazu?«
»Nein«, sagt er.
Ohne zu zählen lauschen sie wieder den Grillen, obwohl zählen besser wäre, als in dieser lähmenden Starre zu verharren.
»Die Idee der Liebe ist schon ein totales Missverständnis«, sagt er.
»Mag sein«, antwortet sie.
»Wenn du ehrlich bist, musst du zugeben, dass es ein Missverständnis ist«, sagt er. »Wenn du deine persönliche Erfahrung und die der Männer und Frauen, die du kennst, wirklich ganz aufrichtig betrachtest.«
»Mag sein«, wiederholt sie, da sie es paradox findet, in so einer Situation eine unhaltbare Idee weiter zu verteidigen.
»Also gibst du es zu«, sagt er.
»Vielleicht«, sagt sie. »Manchmal denke ich, wir sind wie Tiere von zwei verschiedenen Spezies, auch wenn wir technisch derselben Art angehören.«
»Genau«, sagt er. »Dennoch tun wir weiter so, als wüssten wir es nicht.«
»Na ja«, sagt sie. »Wenn du hören könntest, wie Frauen unter sich über Männer reden, würdest du das nicht behaupten.«
»Auch wenn du Männer über Frauen reden hören könntest«, sagt er. »Sie tönen wie die Jäger, aber gleich unter ihrer miesen Angeberei lauert die schreckliche Kluft, das absolute Unverständnis.«
»Meinst du, dass man das einfach hinnehmen muss?«, fragt sie.
»Ich glaube schon«, sagt er. »Jenseits aller Illusion von Dialog und Verständnis.«
Unwillkürlich geht sie die Paare durch, die sie kennt: ihr Verhalten, wie sie zusammenpassen, ob sie sich ebenbürtig sind oder einer dem anderen unterlegen ist.
»Siehst du nicht, was passiert, jedes Mal?«, sagt er. »Sobald die Phase der Eroberung und der Scheinheiligkeit vorbei ist?«
»Dann kommt alles heraus, Enttäuschung und Bitterkeit?«, sagt sie. »Dann kommen die Forderungen und die Anklagen?«
»Die Übergriffe, die Erpressungen«, sagt er. »Das Gefühl, getäuscht und hereingelegt und verraten worden zu sein. Es ist nur eine Frage der Zeit.«
»Aber doch nur, weil jeder versucht, den anderen zu vereinnahmen«, sagt sie. »Ihn anders zu machen, als er wirklich ist.«
»Der andere spielt natürlich mit«, sagt er. »Er tut so, als wäre er, wie man ihn gerne hätte, häufig noch bevor man es ausdrücklich von ihm verlangt. Und da er schon dabei ist, tut er gleich, als ob er sogar noch besser wäre, als man ihn gerne hätte.«
»Meinst du, das ist immer so? Immer Heuchelei? Immer Theater?«
»Fast immer«, sagt er.
»Also nicht immer.«. Hat sie in ihrem Beziehungsleben je irgendwelche Rollen gespielt, fragt sie sich. Wenn sie ganz ehrlich sein soll, ja: die hübsche, naive junge Ehefrau mit Luigi, die ausschweifende Künstlerin, die trinkt und raucht und singt und tanzt und keine Grenzen und Zeiten kennt mit Alberto, die fast zur Mailänderin gewordene Amerikanerin und fast zivilisierte Wilde mit Stefano.
»Je nach Personen und Umständen mag das Spiel mehr oder weniger bewusst sein«, sagt er. »Es soll sogar vorkommen, dass gewisse Beteiligte tatsächlich daran glauben wollen.«
»Es kann auch vorkommen, dass gewisse Beteiligte tatsächlich daran glauben«, sagt sie. »Ja«, sagt er.
»Und was passiert dann mit so jemandem?«, fragt sie. »Er kriegt es satt«, sagt er. »Warum?«, sagt sie.
»Weil er erreicht hat, was er wollte«, sagt er. »Oder eben nicht. Weil das So-tun-als-ob so mühsam ist, dass er es nicht ewig durchhalten kann.«
»Wie traurig«, sagt sie. »Und wie grausam.« Sie denkt daran, wie sie sich jeweils am Ende einer Beziehung nicht mehr verstellen und anpassen mochte; an das Gefühl von Verlust und Befreiung, an die unwirkliche Leichtigkeit, in der sie sich schrecklich allein fühlte, bis sie beschloss, sich die nächste Last aufzuladen.
»Ja«, sagt er.
»Sind Männer und Frauen darin gleich, deiner Ansicht nach?«, fragt sie. »Im So-tun-als-ob und im Fallenstellen und dem ganzen Rest?«
»Jeder macht es auf seine Art«, sagt er.
»Soll heißen?«, fragt sie.
»Die Frauen sind weniger mechanisch«, sagt er. »Sie bleiben mehr mit ihren Träumen in Kontakt als die Männer.«
»Träumen die Männer nicht?«, fragt sie.
»Sie träumen, solange sie jung sind«, sagt er.
»Und dann hören sie auf?«,
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