Sie und Er
Verlustgefühl. Es ist, als würde man in einen Zug steigen, um eine Reise von drei Stunden zu machen, und dann monatelang darin gefangen sein. Hin und zurück, hin und zurück, immer die gleiche Strecke, die gleichen Kurven, die gleichen Bahnhöfe, die gleichen Passagiere, die gleichen Kontrolleure.«
»Aber eine Zweierbeziehung ist keine Zugreise«, sagt sie. »Sie kann jederzeit neue Wege einschlagen, sich verändern, sich weiterentwickeln.«
»Das erzählen die Passagiere einander«, sagt er. »Und derweil legen sie Kilometer um Kilometer auf der ewig gleichen Strecke zurück.«
»Wenn die Männer wüssten, wie viel Enttäuschung sie bei den Frauen auslösen!« Plötzlich packt sie die Wut. »Sie brächten gar nicht mehr den Mut auf, sie anzusprechen.«
»Das ist wahr«, sagt er.
»Die ständige Enttäuschung.« Ihre Stimme wird lauter. »Noch mal und noch mal und noch mal.«
»Und wenn die Frauen wüssten, welchen Hass die Männer auf sie haben«, sagt er.
»Hass?« Die Brutalität seiner Feststellung erschüttert sie.
»Hass«, wiederholt er. »Wegen all der Unterschiede, die sich nicht vereinbaren lassen.«
»Also beruht das Gefühl auf Gegenseitigkeit.« Sie will keine Zugeständnisse mehr machen.
»Nein«, sagt er. »Denn in jedem Mann, egal wie zärtlich und sanft er wirkt, lauert ein brutaler Vergewaltiger, Folterknecht und Sklaventreiber, der nicht nur jede Frau missbrauchen will, die ihm über den Weg läuft, sondern sie auch in Stücke reißen würde, wenn er könnte. Und wenn er die Gelegenheit dazu hat, tut er es. Lies die Zeitung, falls du Beweise brauchst.«
»Na gut, das sind Extremfälle«, sagt sie, aber innerlich gerät sie ins Schleudern.
»Es sind umgesetzte Fälle«, sagt er. »Das Potential ist grundsätzlich vorhanden. Der Henker hält sein Messer stets hinter dem Rücken bereit. Und meistens betrachtest du ihn keineswegs als Henker, weil du ihn gut kennst und weißt, wie schwach und furchtsam er ist, auf der Suche nach einer Mama, die ihn ernährt, und einer Krankenschwester, die ihn pflegt. Henker haben nämlich keine Heldenseele, ganz im Gegenteil.«
»Hey, du bist doch selbst ein Mann«, sagt sie. »Kein Marsmensch, der herkommt, um den distanzierten, unparteiischen Beobachter zu spielen.«
»Deshalb sage ich es dir ja«, erwidert er. »Weil ich die ganze Trostlosigkeit der Männerphantasien kenne, die mechanische Abscheulichkeit ihrer Gedanken, ihre Art, eine Frau Stück für Stück mit den Augen abzutasten wie Schlachtvieh, die unverzeihliche Vulgarität der Blicke und Worte, den Galgenhumor.«
»Nicht alle sind so«, sagt sie. »Es gibt auch andere Männer.«
»Solche wie die Modeschöpfer, die Frauen wollen, die nur Haut und Knochen sind, als bewegliche Gliederpuppen für ihre Kleider?«, sagt er. »Oder die Herausgeber von Illustrierten oder die Werbefritzen, die die Frauen mit Bildern von magersüchtigen Sechzehnjährigen überschwemmen, um Cremes gegen Zellulitis und nutzlose Diäten und Rezepte für nicht existierende Lebensentwürfe zu verkaufen, und sie ganz unglücklich machen mit ihren endlosen tagtäglichen Erpressungen?«
»Ich meine emotional reifere Männer«, sagt sie. »Die sensibler und aufmerksamer sind.«
»Ach ja?«, sagt er. »Wer denn, zum Beispiel? Machst du mich mit einem bekannt, für den du die Hand ins Feuer legen würdest? Nicht wegen des Zeugs, das er dir erzählt, während er eine Rolle mimt, um sein Ziel zu erreichen, sondern auf der Basis dessen, was du absolut sicher weißt, weil du in seine geheimsten Gehirnwindungen vorgedrungen bist?«
Könnte sie für Stefano die Hand ins Feuer legen? Nein, findet sie, nicht unter diesen Umständen. Bezogen auf Alberto wäre es geradezu lächerlich, und Gleiches gilt für Luigi und für Jim; sogar für ihren Vater.
»Wenn die Frauen wüssten, mit wem sie tatsächlich zum Abendessen ausgehen«, sagt er, »mit wem sie ins Bett steigen und morgens frühstücken. Wer der widerliche Besessene, mit dem sie zusammenleben, wirklich ist, der Egozentriker, das große Kind, das immer neues Spielzeug sucht, der Voyeur und Onanist, der sich mit Pornoseiten im Internet die Augen verdirbt, der lustlose, gleichgültige Vielfraß und Schnarchsack, in den sich im Lauf weniger Monate oder Jahre der Mann verwandelt hat, der sie mit Lächeln und Floskeln und stereotypen Gesten so hartnäckig und beharrlich belagert hatte, bis sie schließlich überzeugt waren, er sei der Beste, dem sie je begegnen
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