Sie und Er
Büchern aus dem Regal, das Ergebnis ist dasselbe. Er denkt, dass ein großer Teil der einzigartigen Eigenschaften, die er Clare Moletto zuschreibt, sehr wahrscheinlich seiner zu lebhaften Phantasie entsprungen sind; dass auch die Neugier und Anziehung, die er ihr gegenüber empfindet, wie gewohnt im Lauf weniger Wochen oder Monate verfliegen würden. Er versucht, sich an die ersten Begegnungen mit den Frauen zu erinnern, mit denen es schiefgegangen ist, denn er will den Beweis dafür finden, dass alles immer nach dem gleichen Muster abläuft: Auf das Interesse folgt unweigerlich die Enttäuschung. Aber es funktioniert nicht, es funktioniert einfach nicht: Je länger er an die anderen Frauen denkt, umso einzigartiger erscheint ihm Clare, unersetzlich, unvergesslich. Er weiß nicht, ob er zu Hause bleiben oder ausgehen oder ihr schreiben soll, sie möge es wenigstens klipp und klar sagen, wenn sie ihn nicht mehr sehen will. Ihm scheint, es ist ihm mit seiner sms gelungen, eine sowieso schon arg verfahrene Situation noch zu verschlimmern; er sieht keine akzeptable Lösung, keinen Rettungsanker.
Wieder klingelt das Handy; er läuft hin, lächerlich aufgeregt. Auf dem Display steht: Miriam Lovati. So fest er kann, drückt er mit dem rechten Daumen auf »Ablehnen«, brüllt: »Aaaaaaaah!«, und wirft das Handy auf den Tisch. Das Handy gleitet langsam über die Holzplatte und fällt mit einem harten Knall auf den Boden, der Deckel springt auf, die Batterie fällt heraus.
Er bückt sich hastig, um die Teile aufzuheben, setzt sie wieder zusammen, drückt auf »Einschalten«, schaut beklommen auf das Display, das einen Sprung abgekriegt hat. Das Handy geht nicht mehr. Er studiert es aus nächster Nähe, versucht, die Batterie erneut herauszunehmen und wieder einzulegen: nichts. Wutentbrannt schmeißt er es an die Wand, hebt es auf und schleudert es zu Boden, trampelt darauf herum, um es unwiederbringlich zu vernichten.
Dann schlüpft er in seine Schuhe, obwohl seine rechte Fußsohle blutet, geht hinaus und saust die Treppe hinunter, als stürzte er in die Tiefe eines Brunnens.
Marina Recardinos Wohnung befindet sich in einer toten, piekfeinen Straße
Marina Recardinos Wohnung befindet sich in einer toten, piekfeinen Straße im ersten Stock eines Hauses aus der Jahrhundertwende mit einem kiesbestreuten Pseudo-Vorgarten und zwei Magnolien am Eingang. In dem großen, dank Klimaanlage kühlen Wohnzimmer auf zwei Ebenen sind mehr Leute, als Clare erwartet hatte: Kollegen und Freunde der Gastgeberin und von Stefano, darunter Tommaso und Lauretta und andere, die sie schon öfter im Restaurant oder im Kino getroffen hat, aber auch solche, von denen sie nur gelegentlich die Namen gehört hat. Um das Büffet kümmert sich ein Partyservice; ein Kellner und eine Kellnerin schenken Wein aus und sorgen dafür, dass auf dem langen, weißgedeckten Tisch immer genügend Platten mit Käse-Crepes, kalter Pasta, Vitello tonnato und anderen Standardgerichten eines sommerlichen Abendessens stehen. Die Gäste lassen sich Gläser und Teller füllen, trinken und essen und reden im Stehen oder setzen sich auf die Stühle, Sessel und Sofas. Clare empfindet abwechselnd Erstickungsgefühle und Kälteschauer, während sie versucht, Lauretta zuzuhören, die von einem Interview erzählt, das sie am Tag zuvor mit einer neurotischen Schauspielerin geführt hat. Clare hat nie einen Film mit dieser Frau gesehen und keine Ahnung, um wen es sich handelt, aber sie ist so verstört, dass sie dem Gespräch sowieso nicht folgen kann. Sie kann nur nicken, und ab und zu beobachtet sie Stefano, der sich ein paar Meter weiter lebhaft mit Freunden und Kollegen unterhält.
Er ist viel übermütiger als vor einer halben Stunde, als er den aufmerksamen Verlobten am Bahnhof spielte: Jetzt trinkt er Weißwein und spricht laut, macht ironische Bemerkungen über einige nicht anwesende Kollegen und die Kanzleibosse, über Klienten, über die katastrophalen Ergebnisse der Fußballweltmeisterschaft, über die technischen Eigenschaften verschiedener Autos. Parallel zu Lauras Worten nimmt sie Fetzen seiner Sätze auf, und plötzlich wird ihr bewusst, dass auch er mindestens auf einen Teil von sich verzichten und Zugeständnisse machen muss, wenn sie zusammen sind. Sie fragt sich, wie viel Mühe ihn das kostet und warum er es tut, was er davon hat. Sie hat noch Daniel Desertis Bemerkungen darüber im Kopf, wie sich jemand in einen Menschen verliebt und dann, wenn er ihn
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