Sie und Er
hat, systematisch versucht, gerade die Eigenschaften des anderen zu verändern, die ihn in seinen Augen besonders ausgezeichnet hatten. In Wirklichkeit hat sie Daniel Desertis Stimme im Kopf: sein warmes, tiefes, leicht heiseres Timbre, während sie zusammen herumgingen oder nebeneinanderlagen oder -saßen. Sie spürt noch seine körperliche Nähe: an der linken Seite ihres Körpers, auf der bloßen Haut des Arms, auf der Schulter, im Nacken. Und nichts deutet darauf hin, dass dieses Gefühl schwindet oder sich in den Hintergrund drängen lässt in dem Gewirr von Stimmen, Gesten und Blicken rundherum.
Stefanos Kollegen und Kolleginnen und Freunde und Freundinnen lachen, scherzen, gestikulieren, beugen sich vor und zurück. Abgesehen von ihrem strikt beruflichen Bereich klingen ihre Ansichten unglaublich beliebig, so abgedroschen, dass nichts Kantiges mehr bleibt. Einer redet über Fernsehmoderatoren, andere reden über Politiker, über Sportler, Formel-I-Rennen, die Lage an den Aktienmärkten, die Urlaubsziele. Einer sagt: »Ja, absolut«, einer sagt: »Das wurde im Fernsehen gesagt«, einer sagt: »Letzte Woche war ich in New York«, einer sagt: »Gerade gestern sagte mir Laurent Thomas von der Credit Suisse«, einer äfft einen anderen nach, manche lachen.
Sie bemüht sich teilzunehmen, fühlt sich aber wie jemand, der eine fremde Sprache spricht, auf einem fremden Planeten. Sie fragt sich, ob sie irgendeinen Grund hätte, mit diesen Menschen in diesem Raum zu sein, wenn sie nicht mit Stefano hier wäre, und muss es sich eingestehen, eigentlich nicht, nein, bestimmt nicht. Es kostet sie größte Anstrengung, auch nur ein paar Worte zu wechseln, das passende Gesicht aufzusetzen. Ihre Gedanken eilen ständig ganz woandershin: zu dem Moment, als sie und Daniel Deserti am Ufer des Flüsschens waren, überwältigt von der gegenseitigen wilden und unkontrollierbaren Anziehung; als sie sich aus wenigen Zentimetern Abstand betrachteten und unterhielten; als sie zweihundert Meter vom Bahnhof entfernt standen und sich nichts von dem sagten, was sie hätten sagen können, nichts von dem taten, was sie hätten tun können. Ihre Stirn glüht, ihr Magen krampft sich zusammen, ihr Herz rast; es gelingt ihr nicht stillzuhalten, sie wickelt sich Haarsträhnen um die Finger, stellt sich mal da, mal dort hin, schaut zu den großen geschlossenen Fenstern hinüber. Ab und zu fragt sie jemanden, wie spät es ist, und findet es unglaublich, dass die Zeit so langsam vergehen kann, so schnell.
Etwa zehn Minuten vor Mitternacht kommt Stefano zu ihr, leicht angeheitert. Er legt ihr eine Hand auf die Hüfte, küsst sie auf die Schläfe. Sie bemerkt, dass sich Gesichter zu ihnen umdrehen, Blicke auf sie richten, Münder in Ohren flüstern.
»Ihr habt uns nicht zufällig was zu sagen, ihr zwei?«, fragt Marina Recardino.
»Was?«, sagt Clare; plötzlich sind alle ihre Muskeln angespannt.
»Was heißt hier was?!«, sagt Marina Recardino in ihrem rauhen Ton und funkelt sie mit den dunklen blanken Augen eines großen Nagetiers an.
Sie dreht sich zu Stefano um und sieht, dass er lächelt.
»Rechtsanwalt Panbianco!«, sagt Marina Recardino. »Wollen wir jetzt mit der Sprache herausrücken oder nicht?«
»Ste-fa-no!«, sagt Antonio Sontra, den Clare erst dreimal gesehen hat, obwohl Stefano häufig von ihm spricht, wenn auch nicht sehr freundschaftlich.
Stefano lächelt immer noch, sein Gesichtsausdruck ist schwer zu deuten.
»Hier ist eine Erklärung vonnöten!«, sagt Antonio Sontra.
»Was denn für eine Erklärung?«, sagt Stefano, weiß aber genau, wovon die Rede ist, denn er dreht sich zu Tommaso um, der wenige Schritte entfernt ist, und zeigt mit dem Finger auf ihn, mit gespielt anklagender Miene.
Tommaso hebt die Arme zum Zeichen, dass er sich ergibt, dann tritt er auf Stefano zu, schubst ihn, klopft ihm mehrmals auf die Hüfte, lacht. Auch Lauretta lacht: »Jetzt kommst du definitiv nicht mehr drum herum, Ste.«
»Er-klä-rung!«, skandiert Marina Recardino zwei- oder dreimal, bis alle im Chor einstimmen.
Stefano sträubt sich, bewegt den Kopf, weicht den Blicken aus. Seine Verlegenheit ist nicht echt: Er ist unter lauter Menschen, die gekleidet sind wie er, die jahrelang die gleichen Schulen besucht, die gleichen Gerichte gegessen, an den gleichen Orten Ferien gemacht, den gleichen Sport getrieben, die gleichen Filme gesehen, die gleichen Songs gehört und die gleichen Zeitungen gelesen haben wie er. Sie sind verbunden durch
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