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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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ist die erpresserische Kraft der Dinge, ihre Fähigkeit, einem ihre ursprüngliche Bestimmung in Erinnerung zu rufen, damit man ihnen ihren Platz zugesteht. Im Winter vor zwei Jahren, als die Heizung kaputtgegangen war, hatte er begonnen, im Wohnzimmerkamin Bücher zu verbrennen; aber sie brannten schlecht, und die Frau, mit der er liiert war, hatte sich darüber empört. Also hatte er damit aufgehört, die Asche und die noch übrigen angesengten Seiten in eine Plastiktüte gefüllt und einen Installateur gerufen, um die Heizkörper zu reparieren.
    Er öffnet die oberste Schublade der Kommode neben dem Schreibtisch, in dem Teil des Wohnzimmers, den er zum Arbeiten nutzt; mit einer Hand kramt er in den Papieren und Gegenständen, um herauszufinden, was er wegwerfen kann und was er aufheben muss. Es kostet ihn zu viel geistige Kraft; er schiebt die Lade wieder zu und lässt es. Vielleicht sollte er eine auf Entrümpelung spezialisierte Firma holen, ohne lang auszuwählen und zu überlegen. Ihm scheint nicht, dass er je Sehnsucht oder Bedauern empfunden hat: Er führt kein Tagebuch, bewahrt keine Erinnerungen auf, jedes Mal, wenn er ein altes Foto von sich findet, wirft er es fort. Die einzigen freiwilligen Spuren seines Lebens finden sich in den Romanen, die er schreibt, aber abgeändert, auch in ihrer Reihenfolge, gewiss nicht hundert Prozent wahrheitsgetreu, wie manche seiner Leser annehmen. Im Gegensatz dazu beeindruckt ihn das Verhältnis, das Frauen zur Erinnerung haben, ihr Hang, sie lebendig und in Ordnung zu halten. Eine seiner Exfreundinnen hatte in einem Koffer alle Briefe, Glückwunschkarten, Ansichtskarten und Telegramme aufbewahrt, die sie je erhalten hatte; eine andere hebt sogar die Bänder ihrer alten Anrufbeantworter auf. Es kommt ihm vor wie eine pathetische Art, sich an die Hüllen der vergangenen Gefühle zu klammern, und doch rührt und fasziniert es ihn, denn es ist das Gegenteil seines Instinkts, immer weiterzugehen, ohne zurückzublicken.
    Die Vorstellung, so viele verborgene Rückstände im Haus zu haben, wird ihm allmählich immer unerträglicher, deshalb zieht er die ersten beiden Schubladen der Kommode heraus und kippt den Inhalt auf den Schreibtisch. Er merkt sofort, dass seine Geduld dafür nicht reichen wird, aber er beginnt dennoch, die Sachen, die er bestimmt nicht behalten will, auf den Boden zu werfen. Nach drei Minuten hat er das Sortieren schon satt, legt die paar Dinge, die ihm etwas bedeuten, zusammen mit den vielen, die er nicht durchgesehen hat, in die Schubladen zurück und schiebt die Schubladen wieder in die Kommode. Er hebt die ausgesonderten Sachen vom Boden auf, geht in die Küche und wirft sie einzeln in den Abfalleimer, um das schwache Gefühl von Befreiung, das er empfindet, so nach Möglichkeit zu verstärken. Er betrachtet die Schriften und die Namen auf den Umschlägen, versucht jede Erinnerung abzuwehren, die sie wecken könnten; die von der Presseabteilung des Zattola-Verlags geschickten Zeitungsausschnitte verursachen ihm Übelkeit. Früher hatte er eine Assistentin, die seine Korrespondenz erledigte und die Artikel und Rezensionen abheftete, aber nachdem sich ihre berufliche Beziehung in eine sexuelle Beziehung verwandelt und ein ungutes Ende genommen hat, ist er zu dem Schluss gekommen, dass es viel besser ist, das Ganze seinzulassen. Er hat sowieso keine Lust, Archive anzulegen mit allem, was über seine Bücher erschienen ist, oder Briefwechsel im Stil des 19. Jahrhunderts zu führen; ihm scheint, das gesündeste Verhältnis zur Vergangenheit bestehe darin, sie zu vergessen.
    Zur jüngsten, aber schon dem Vergessen geweihten Vergangenheit gehört zum Beispiel auch Marcella Cartorilio, die an diesem Morgen aus seinem Bett geschlüpft ist und sich dann eine halbe Stunde im Bad eingeschlossen hat, um sich zurechtzumachen und dafür gewappnet zu sein, der Welt oder vielleicht ihm entgegenzutreten, und während sie dann ein paar Dinkelkekse in ihren Kaffee tunkte, hat sie ihm zwei oder drei hässliche Gedichte aufgesagt, während er nur daran dachte, wie er die Episode beenden und sie zur Tür schieben und in seiner schon zu vollen Wohnung allein bleiben könnte. Auch das einen Meter achtzig mal eins fünfzig große Bild möchte er weg haben, das der Maler Zugnato ihm gut in Plastik verpackt geschickt hatte, weil er auf ein Vorwort zu seinem Katalog hofft, und das seit fünf oder sechs Monaten an einer Wand im Flur lehnt. Genauso wie die Briefe von Lesern und

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