Sie waren zehn
Hitler müssen sie allesamt verbrannt worden sein. Nach dem 20. Juli blieb nur diese dünne Akte übrig, die zu Kaltenbrunner, zum SS-Hauptstab, kam. Dort wurde sie, als der Russe auf Berlin rückte, nach Bayern verlagert, wo sie der Ami eroberte. Jahrelang spielten sie dann verrückt! Da war ein Unternehmen Wildgänse, von dem man keine Ahnung hatte. Da waren zehn deutsche Offiziere, die einen Sonderauftrag hatten und nie wieder auftauchten! Wo waren die zehn? Lebten sie noch? Man hat bei den Nürnberger Prozessen hintenherum, sozusagen von Freund zu Freund, versucht, die Sowjets anzuzapfen. Sie blieben stumm wie eine Flunder! Immer wieder hat man bei Kontaktgesprächen von den Wildgänsen angefangen – die Sowjets spielten tote Fliege.«
»Und nun bin ich zurückgekommen …«
»Ja! Wie aus dem Grab auferstanden. Der letzte.«
»Irrtum! Wir sind noch vier.«
»Asgard!« Willy Hecht griff mit zitternder Hand nach seinem Kognakglas. »Das sagst du so dahin, als sei's eine Skatzahl! Es leben noch vier?«
»Ja.«
»In Rußland?«
»Nur noch drei. Nummer vier sitzt hier.«
»Du lieber Himmel! Und warum sind sie nicht mitgekommen?!«
»Sie sind glückliche Russen geworden.«
»Deutsche Offiziere?!«
»Du vergißt, daß der Osten immer schon Deutschlands Sehnsucht war. Die Ordensritter, die Hanse, die deutschen Forscher und Offiziere in zaristischen Diensten. Die Bauern an Wolga und Don, die Katharina herüberholte. In Kasakstan gibt es Gebiete, größer als Bayern, wo man neben Russisch ein gutes Deutsch mit schwäbischem Dialekt spricht. Sehen wir von der Politik ab. Rußland ist ein Land, wo der Mensch noch spürt, daß die Natur ihn und er die Natur braucht! Hast du hier jemals ein solches Gefühl gehabt?«
General Hecht schlug die Akte auf. »Ihr seid noch vier!« sagte er tief atmend. »Wer ist es?«
»Die Wildgänse sind brave Hausgänse geworden, Willy. Es hat keinen Zweck. Frage nicht weiter. Laß uns Kaffee und Kognak trinken und erzähle mir, wie es dir geht. Jeneralleutnant Hecht!«
Der General griff noch einmal in den Zwischentisch und legte eine andere Akte vor die Kaffeetassen. Ein weißer Deckel mit einem roten Kreuz. Mit zusammengekniffenen Lippen lehnte sich Kuehenberg weit zurück. Sein Gesicht war regungslos, die scharfen Falten darin wirkten wie vernarbte Säbelhiebe. »Weißt du, was das ist?« fragte Hecht.
»Ich ahne es.«
»Eine Zusammenstellung aus den Suchdienstblättern des Deutschen Roten Kreuzes. Die erste Suchmeldung ist von 1940. Zweiunddreißig Jahre alt. Noch immer aktuell. Noch immer sucht und hofft der Antragsteller. Seit zweiunddreißig Jahren, Asgard! Es gibt genug Mütter und Väter, Brüder und Schwestern, Frauen und Kinder, die sich sagen: Vermißt ist nicht tot! Vermißt heißt Hoffnung! Vermißt – das ist noch eine Chance! Das muß nicht endgültig sein.« General Hecht schlug die Mappe auf. Briefe, Formulare, Fragebogen und immer wieder Briefe. Handschriftlich, mit der Maschine. Dazu alte Fotos. Junge, lachende Männer. Fröhliche, oft noch kindliche Gesichter. Strahlende Jugend. Gruppenbilder, einzeln. In einer Tüte eine lange, blonde Locke.
Kuehenberg blickte zur Seite, als Hecht die Locke herausholte und über den Tisch hielt.
»Die Mutter schrieb dazu: ›Vielleicht hilft diese Locke weiter. Ich habe sie meinem Sohn abgeschnitten, bevor er wieder nach Rußland mußte. Damals war er 21 Jahre alt, seit einem halben Jahr Leutnant. Er war stolz auf seine blonden Locken. Er war so ein lustiger Mensch. Bestimmt können sich seine Kameraden an seine Haare erinnern und an sein helles Lachen.‹«
»Johann Poltmann«, sagte Kuehenberg dumpf. »Ab 3. Juni 1944 hieß er Fjedor Pantelijewitsch Iwanow. Verheiratet mit Wanda Semjonowna Haller, Vorarbeiterin einer Hausbau-Brigade …«
General Hecht ließ die lange blonde Locke auf Kuehenbergs Kuchenteller schweben.
»Willst du nicht reden, Asgard?« fragte er leise. »Seine Mutter ist jetzt 79. Lebt in einem Altersheim bei Bremen. Und hofft, hofft … Jedes Jahr erneuert sie ihre Anfrage an das Rote Kreuz. Sie alle fragen immer wieder an! Du bist der einzige, der alles weiß! Asgard … du mußt reden! Wenn aus deinem Herzen kein Kohlkopf geworden ist.«
»Ich habe auf meiner Datscha keinen Kohl gepflanzt. Aber viele Blumen.«
»Dann laß sie jetzt aufblühen, Asgard! Willst du die Briefe lesen?«
»Ja.« Kuehenberg nahm die Locke zwischen Zeigefinger und Daumen und steckte sie wieder in die Tüte. Johann
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