Sie waren zehn
Denn wenn wir fragen würden, immer wieder fragen, wenn jeder auf der Welt fragen könnte und dürfte, Tag und Nacht, zu jeder Stunde, unentwegt fragen – dann gäbe es keine Kriege mehr. Denn die, die Kriege befehlen, wissen dann keine Antwort mehr, und ohne Antwort verfliegen die Gründe wie Dünste. Aber wir fragen ja nicht, wir gehorchen nur. Dein Sohn Jurij hat gehorcht und ist dafür erschossen worden, und ich gehorche und werde auch nicht überleben, und so wird es immer sein, Luka Antipowitsch, immer gibt es zwei Ansichten vom Krieg, und jeder hat recht, wenn man ihn anhört, denn wir hören ja bloß zu, wir fragen nicht, und wir glauben, was wir hören, und lassen uns dafür umbringen. Das ist die unbegreifliche Dummheit der Menschen von Anbeginn, als Kain seinen Bruder aus Neid erschlug. Wir Menschen haben unseren Namen ›Mensch‹ mit Blut geschrieben. Wer kann das ändern, ohne die ganze Menschheit auszulöschen?
»Die Deutschen, Luka Antipowitsch«, sagte Sepkin nachdenklich und ließ den Wein in seinem Wasserglas kreisen. »Sie kämpfen auch um ihr Vaterland.«
»Sagen sie das? Hast du mit einem dieser Ungeheuer gesprochen?«
»Mit vielen, Väterchen.«
»Sie lügen! Wir wollten nie ihr Land wegnehmen.«
»Man hat es ihnen erzählt, und sie glauben es.«
»Wir haben Land genug. Was wollen wir mit Deutschland? Wir haben soviel Land, daß wir es gar nicht bewohnen können! Warum blickt in Deutschland keiner auf die Landkarte? Ein Punkt – das ist Deutschland! Ein großer Fleck, das halbe Blatt fast – das ist unser Land! Was nützt uns der Punkt, he?«
»Du bist ein Philosoph, Luka Antipowitsch«, sagte Sepkin und trank einen langen Schluck Wein. »Aber können wir es ändern?«
Wir sind hier, um es zu versuchen, dachte er dabei. Wir sind nach Moskau gekommen, um dem Rad der Welt eine andere Richtung zu geben. Zehn deutsche Offiziere mit dem wahnsinnigsten Befehl im Hirn. Frage mich jetzt nicht, mein lieber Puschkin, ob dieser Mord mit irgendeiner Rechtfertigung verklärt werden kann! Du freust dich, daß die sowjetischen Soldaten bald mit einer breiten Feuerwalze nach Westen stoßen werden, um Deutschland zu vernichten. Für uns ist es der Kampf ums Überleben. Wer fragt da nach der Schuld? Das wahre Urteil spricht nie die Generation, die im Granatloch verreckt ist.
Jelena kam mit den duftenden Blinis. Ihr schmales Gesicht war vom Herdfeuer gerötet, die Augen leuchteten. Einen einfachen Kittel trug sie, mit einem Gürtel zusammengebunden. Schön sah sie aus, ein Wunder von einem Mädchen, und als sie jetzt lachte, überkam Sepkin ein seliges Glücksgefühl.
»Ich habe einen großen Einfluß«, sagte Puschkin und leckte sich über die Lippen. Mit der Gabel zog er einen dicken Pfannkuchen auf seinen Teller. »Ha, wer hat nicht alles auf meiner Station in der Unfallklinik gelegen! Schweigen muß ich, das habe ich mit einem Eid beschworen, aber ich sage dir, Piotr Mironowitsch: Morgen werde ich von der Klinik einige wichtige Leute anrufen und dir eine gute Stellung besorgen. Verlaß dich darauf! Du hast meine Jelena beschützt … Es bleibt dabei: Ein Teil meines Herzens gehört dir! Greif zu, Söhnchen, ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß Jelenas Blinis die besten in ganz Moskau sind.«
Es blieb Luka Iwanowitsch Petrowskij vorbehalten, seinem Ruf, eine große Fresse zu haben, nicht untreu zu werden, obwohl Oberst von Renneberg ihn noch bis zuletzt gewarnt und ermahnt hatte.
»Solbreit«, hatte er noch beim Abschied in Eberswalde gesagt, »bei Ihnen habe ich Angst, daß Sie überziehen. Nicht daß die Russen merken können, wer Sie wirklich sind – aber auch in Rußland ist Ihre Art, jeden Menschen mit Worten in den Hintern zu treten, nicht sehr beliebt. Versprechen Sie mir, die Hälfte dessen, was Sie sagen wollen, zu verschlucken!«
Petrowskij-Solbreit versprach es großzügig, aber schon bei seiner Eisenbahnfahrt nach Moskau – wir haben es gesehen – unterhielt er das ganze Abteil mit seinem angeblichen Magengeschwür, sammelte weise Ratschläge ein, rülpste zum Gotterbarmen, um alle Mitreisenden teilhaben zu lassen am Geruch seines Mageninhalts, und kam so mit einer Frechheit, die Renneberg alarmrote Ohren beschert hätte, glatt bis Moskau. Er wartete bis zum Abend, ging an diesem warmen Junitag in Moskau spazieren, besichtigte wie ein Tourist die Gärten und Boulevards, die Kremlmauer und die Kirchen, fuhr sogar mit der Metro die schönsten Stationen ab und saß dann in der
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