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Sie waren zehn

Sie waren zehn

Titel: Sie waren zehn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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ein ehrsamer Beruf. Wir hatten in Nowo Karpyrdak eine große Käserei. Ein Musterbetrieb war das! Das einzige, was sich über Karpyrdak zu berichten lohnt. Unsere Rundkäse waren berühmt. Fest in der Rinde, aber innen zart wie Butterschmelze. Und ein Duft, Jelena Lukinischna – ein Duft! Schon vom Riechen wurde man halbsatt , so wohlige Gefühle stellten sich ein. Viermal bekamen wir einen Ersten Preis und ein Diplom. Das soll uns einer mal nachmachen!«
    »Sie werden es schwer haben, in Moskau eine Arbeit in Ihrem Beruf zu kommen«, sagte Jelena. »Aber überall baut man auf. Sicherlich werden Sie Arbeit auf einem Bau oder an der Straße finden.«
    »Das verhindert meine Lunge.«
    »Aber wovon wollen Sie leben?«
    »Ist das meine Sorge? Sie haben mich untauglich geschrieben – also müssen sie auch für mich sorgen! Ich werde jeden fragen: ›Antwort, Genosse! Was hat meine Lunge mit einem Gewehr zu tun? Zielt etwa die Lunge? Drückt die Lunge ab? Wirft die Lunge Handgranaten?‹ Sie werden sich alle ducken, die Genossen Beamten, und blöde dreinschauen! Vielleicht schicken sie mich dann nach Karpyrdak zurück. Oder, noch besser, zu meiner Kompanie.«
    Sie gingen über den Tverskoj bul'var und stiegen hinunter in die U-Bahn-Station Majakowskaja , einem Palast, dessen Gewölbedecke auf Säulen aus rostfreiem Stahl ruht und an dessen Wänden 35 riesige Mosaiken den Ruhm der Sowjetvölker verkünden. Eine in ganz Rußland berühmte U-Bahn-Station: Während die deutschen Armeen im Halbkreis um Moskau lagen und niemand wußte, ob es ihnen nicht doch noch gelingen würde, Mütterchens Herz zu erobern, oder ob der mit seltener Gewalt einbrechende Winter sie zurücktreiben konnte, hielt hier unter der Erde, in der weiten U-Bahn-Halle, am 6. November 1941 Stalin die Festsitzung zum Jahrestag der Oktoberrevolution ab. Eine Metro-Station mit Weltgeschichte. Eine große Gedenktafel erinnerte daran.
    Jetzt, um diese späte Nachtzeit, war die Majakowskaja fast leer. Ein paar Leute standen herum, meist alte Menschen, die mit trüben Augen kaum Notiz von Sepkin und Jelena nahmen und sich auch nicht wunderten, daß in einer so warmen Juninacht ein junges Mädchen sich in einen alten, schmuddeligen Männerrock wickelte.
    Im Metro-Zug saßen sie allein in einer Ecke des Wagens. Niemand grinste sie an. Sepkin war nicht gezwungen, sein großmäuliges Versprechen einzulösen, jeden niederzuboxen, der Jelena auslachte. Während sie unter der Erde ostwärts ratterten, mußte Sepkin an die beiden betrunkenen Rotarmisten denken. Hatte er sie wirklich mit seiner Handkante totgeschlagen? Wenn sie am Morgen von den Bauarbeitern gefunden wurden, würde es eine riesige Aufregung geben. Aber es gab keine Spuren. Vielleicht nur ein paar undeutliche Schuhabdrücke im Bausand und in der erstarrten Kalkmilch, auf die Sepkin, als er in den Neubau eindrang, getreten war. Aber was sagte das schon aus? Wie will man in Moskau unter Millionen Schuhen gerade diesen einen Schuh finden?
    »Woran denken Sie, Piotr Mironowitsch?« fragte Jelena und stieß Sepkin an. »Sie sind plötzlich so still geworden?«
    »Ich trauere im voraus.« Sepkin blickte Jelena voll ins Gesicht. Er hat gute Augen, dachte sie mit einem unbekannten Glücksgefühl. Sein Blick ist wie ein sanftes Streicheln. »In wenigen Minuten müssen wir uns trennen. Vielleicht sehen wir uns nie wieder …«
    »Wo wollen Sie heute schlafen?«
    »Ich war noch auf der Suche, als ich Sie schreien hörte. Ich dachte: Melde dich in einem Urlauberheim der Armee. Noch gehöre ich dazu. Gott verfluche den dicken Arzt!«
    »Wir werden mit Papuschka sprechen.«
    »Mit Ihrem Vater?«
    »Wir sind keine reichen Leute, aber Väterchen kennt eine Menge Leute mit Einfluß. Und immer weiß er einen Rat. Er ist Krankenpfleger in der Sklifossowski -Unfallklinik.«
    Sepkin nickte und blickte nach innen. Der Stadtplan Moskaus, das Aufzählen der wichtigsten Gebäude. Abteilung Krankenhäuser: Die Botkin-Klinik, die Lungen-Klinik, die staatlichen Krankenhäuser Nr. 1, Nr. 2, Nr. 4, Nr. 13, Nr. 14 und Nr. 24, die Poli -Klinik, die Unfall-Klinik … Das waren die wichtigsten. Damals hatte er es merkwürdig gefunden, daß die Krankenhäuser keine Namen, sondern nur Nummern trugen. Aber dann, nach Mildas Vorträgen über sowjetische Lebensphilosophie, hatte er den Nutzen erkannt. Ein kranker Mensch wurde in diesem staatlichen Gesundheitswesen selbst zu einer Nummer, passiver Teilnehmer an einem großen Reparaturprozeß.

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