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Sie waren zehn

Sie waren zehn

Titel: Sie waren zehn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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auf Worte. »Haben Sie das getan? Haben Sie Jelena so zugerichtet?! Und Sie wagen es auch noch, mitzukommen?« Er stürzte an dem verblüfften Sepkin vorbei zur Tür, riß sie auf und stellte sich ins Treppenhaus. »Hier kommen Sie nicht wieder 'raus!« schrie er. »Über fünfzig Bewohner dieses Hauses werden Sie aufknüpfen! Jawohl, aufknüpfen!«
    »Komm herein und mach die Tür zu, Väterchen«, sagte Jelena ruhig. »Alles bringst du durcheinander. Das Leben hat mir Piotr Mironowitsch gerettet. Laß es dir erzählen.«
    »Das Leben gerettet?« Puschkin tappte in die Wohnung zurück, verriegelte hinter sich die Tür und wußte nun nicht, wie er sich benehmen sollte. Der fremde junge Mensch, der noch keinen Ton gesagt hatte, nahm seiner Tochter die Jacke ab. Das ganze Ausmaß der Zerstörung war erst jetzt erkennbar: ein Fetzen war das Kleid, nur noch in ein paar Streifen hing es am Körper. »Wer war das?« fragte Puschkin dumpf.
    »Zwei betrunkene Soldaten«, sagte Sepkin. »Ich kam gerade zur richtigen Zeit.«
    »Piotr hat sie totgeschlagen, Väterchen.«
    »Was hat er?«
    »Mit der bloßen Hand! Umgefallen sind sie wie die Kegel.«
    »Ist das wahr?« fragte Puschkin mit Ehrfurcht in der Stimme. »Um Jelena zu retten, haben Sie zwei Soldaten erschlagen?«
    »Ich weiß es nicht. Ich habe es vermieden, hinterher noch einmal nachzusehen. Jelenas Sicherheit war mir wichtiger.«
    »Ich danke Ihnen«, sagte Puschkin und kam auf Sepkin zu, um ihn an sich zu drücken. »Wer Sie auch sind – ein Teil meines Herzens gehört Ihnen. Sie haben mein Kind gerettet. Da will ich nicht mehr fragen!«
    Später aber fragte er doch. Sie tranken mit Narzan – das ist ein geschmackloses Mineralwasser – verdünnten Krasnoje, einen einfachen Rotwein, den Puschkin von seinem Vetter bekommen hatte, der auf der Krim lebte und in einem Winzerkombinat arbeitete. Der Wein stammte noch aus der Vorkriegszeit, und als Puschkin die Flasche holte, war sie weiß-grau von mehligem Staub. Sein Versteck war nämlich raffiniert; er löste unter dem Plüschsessel ein Bodenbrett und holte darunter seinen Schatz hervor. Der Wein war sogar noch trinkbar, ein wenig sauer zwar, aber erfrischend mit dem Narzan. Dazu aßen sie Brot und einen bitteren Käse mit einer stinkenden braunen Kante.
    Jelena hatte über ihr Unglück berichtet, und Luka Antipowitsch war stolz auf seine Tochter. Seine Brust schwoll an, als er sagte: »So ist sie! Sieht aus wie ein zartes Täubchen – und hat das Herz eines Adlers! Trotzdem wäre sie verloren gewesen ohne dich, Piotr Mironowitsch. Wie alt bist du? Laß mich raten. Na, schätzen wir – schwer ist's, der Krieg macht aus Kindern Greise – ich sage: Mitte Zwanzig.«
    »Genau getroffen. Fünfundzwanzig Jahre.«
    »Jelena ist neunzehn. Ihr Bruder Jurij wäre jetzt dreiundzwanzig.« Puschkin blickte starr gegen die getünchte, rosafarbene Wand. »Sie wissen schon von Jurij?«
    »Jelena hat es erzählt. Panzerschlacht von Gomel.«
    »Wir müssen den Krieg gewinnen«, sagte Puschkin leise und mit vor Ergriffenheit heiserer Stimme. »Ihr Soldaten müßt ihn gewinnen, schon um eurer Brüder willen, die ihr Leben lassen mußten, um die Deutschen zu vertreiben. Wie Jurij wollten sie alle leben und alt werden, aber die Deutschen haben es verhindert. Was sind das für Menschen, Piotr Mironowitsch? Fallen über uns her, und wir haben ihnen nichts getan. Nur daß wir leben, ist für sie ein Grund, uns zu vernichten. Sind das noch Menschen wie wir? Du hast sie gesehen, du bist ihnen gegenüber gelegen, du hast auf sie geschossen. Nicht wahr, es sind Ungeheuer, diese Deutschen?«
    Sepkin umklammerte das Wasserglas mit dem verdünnten Rotwein. In der Küche backte Jelena süße Blinis und strich sie mit einer Marmelade aus Roten Rüben ein. Es roch köstlich und trieb den Speichel über die Zunge. So sehen sie uns, dachte Sepkin bitter. Ungeheuer sind wir. Wer hat nun recht: der Führer, der von der Bedrohung der Welt durch den Bolschewismus spricht, oder der Krankenpfleger Puschkin in Moskau, der glaubt, man habe sein Land grundlos überfallen? Wir werden das Urteil der Geschichte nie hören, Väterchen Luka Antipowitsch, wenigstens ich nicht. Ich bin gekommen, um zu töten. Jetzt frag mich nur: Was bist denn du für ein Mensch? Und ich werde dir antworten: Ich weiß es nicht, mein lieber Puschkin. Vielleicht auch ein Ungeheuer – oder ein deutscher Patriot – oder einfach nur ein Soldat, der seine Pflicht tut, ohne zu fragen …

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