Sie waren zehn
informierte. Was war schon zu sehen in Michailowskoje?! Ein elendes Nest war es, nur die Kirche war sehenswert, aber die konnte niemand mehr besuchen. Ein Warenlager war sie jetzt, nachdem vor einem halben Jahrzehnt der letzte standhafte Pope mit zweiundneunzig Jahren vor der Ikonostase still und glücklich eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht war.
Am Abend tischte Oberleutnant Dytschkin ein gebratenes Huhn und Blumenkohl auf, mit gehackten Eiern überstreut. Dabei lernte man auch die Dytschkina kennen, eine brave, ebenso dicke Frau mit einem tiefen Nackenknoten, deren Unterlippe beim Sprechen zitterte wie angeschlagene Klaviersaiten. Sie verschwand sofort nach dem Servieren und nachdem sie die Tscherskasskaja angesehen hatte. Was beweist, daß sie auch klug war.
Dytschkin betrank sich ziemlich schnell an einem selbst aufgesetzten Brombeerwein vom letzten Jahr, als er noch sorgloser Pensionär gewesen war, jammerte über den Krieg, ließ Stalin hochleben und wankte davon in seine Privatwohnung. Auch Plejin erhob sich, um in seine Zelle zu gehen. Die Tscherskasskaja jedoch blieb sitzen. Sie streckte die langen Beine in den engen Stiefeln von sich, lag fast in dem zerschlissenen Plüschsessel, der auch noch die Zarenhymne gehört haben mußte, und drehte das Glas mit dem Brombeerwein in den Händen. Die Uniformjacke hatte sie geöffnet, die schwarzen Haare fielen über ihren Nacken und halb über die Wangen, und ihre Bernsteinaugen waren dunkel und poliert. Plejins Puls klopfte in den Schläfen. Nachdem sie die Jacke aufgeknöpft hatte, verriet der straffe Busen ihre ausgereifte Weiblichkeit.
»Einen guten Schlaf wünsche ich, Ljudmila Dragomirowna«, sagte er mit belegter Stimme.
Sie nickte, fixierte den Wein in ihrem Glas und fragte leichthin: »Wie alt sind Sie, Kolka?«
Er spürte mit Unbehagen, wie er rot wurde, etwas Unabwendbares, das er nicht unterdrücken konnte.
»Zwanzig«, sagte er.
»Neun Jahre jünger als ich.«
»Das hätte ich nicht gedacht. Im Gegenteil. Ich habe mich gefragt: So jung und schon Offizier der Miliz?«
»Reden Sie keinen Blödsinn, Kolka. Trotz meiner neunundzwanzig Jahre liebe ich solche verlogenen Komplimente nicht.« Sie trank einen Schluck und hielt den blaßroten Wein gegen die einsame Glühbirne, die von der Decke hing. »Zwanzig Jahre! Das war 1935! Wie weit liegt das zurück. Da studierte ich in Alma-Ata Archäologie. Können Sie sich das vorstellen, Kolka?« Sie lachte kurz und abgehackt. »Ich wollte die Vergangenheit Kasakstans ausgraben! Ganz versessen war ich auf die Geheimnisse vergangener Jahrhunderte. Mit zwanzig Jahren … Es ist herrlich, so jung zu sein!«
»Und warum haben Sie nicht gegraben?« fragte Plejin. Er setzte sich ihr gegenüber in einen alten Korbsessel, ziemlich weit entfernt von ihrem offenen Uniformrock und der straffen Bluse. Ein breiter Tisch stand zwischen ihnen wie ein Grenzwall. Ljudmila Dragomirowna warf mit einem Ruck den Kopf zurück. Ihre schwarzen Haare flatterten wie eine zerfetzte Fahne um den schmalen Kopf mit den breiten Wangenknochen.
»Ich lernte Georgi kennen.«
»Ach so.«
»Sagen Sie nicht bloß ›ach so‹ daher! Georgi Iwanowitsch Ameljew . Sie kennen ihn nicht?! Der Name sagt Ihnen gar nichts?! Wie sollte er auch … Sie waren damals 12 Jahre jung! Georgi war der beste Läufer Rußlands. 800 Meter, 1.500 Meter und 3.000 Meter. Unbesiegbar. Ein Sportler wie aus dem Bilderbuch. Und blond! Blonde Locken! Jeden Tag, den ich mit ihm zusammen war, starb ich vor Liebe. Jeder Kuß war wie ein Blitzeinschlag, jede Umarmung eine Flamme, jede.« Sie winkte ab und trank wieder einen Schluck. »Ich war dem Wahnsinn nahe. Das war 1936. In Deutschland, in Berlin, demonstrierte Hitler mit den Olympischen Spielen seine Macht. Georgi sollte für die Sowjetunion laufen. Jeden Tag trainierte er im Stadion von Alma-Ata, und ich saß an der Aschenbahn und stoppte seine Zeiten. Vier Tage vor der Abfahrt stürzte er in einer Kurve, beim letzten Training, und brach sich den Knöchel. Drei Tage vor Berlin sagten ihm die Ärzte: ›Du wirst nie wieder laufen können. Der Knöchel bleibt steif.‹ Als im Radio die Eröffnung der Olympischen Spiele übertragen wurde, als die Fanfaren erklangen und der Athlet mit der olympischen Fackel ins Stadion einlief, hat sich Georgi in seinem Krankenbett mit einem Dolch ins Herz gestochen. Keiner konnte ihm mehr helfen …« Sie trank das Glas aus und hielt es Plejin hin. »Schenken Sie noch einmal ein,
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