Sie waren zehn
rief Plejin. »Ich schwöre Ihnen, Ljudmila Dragomirowna: Das ist die Diagnose! Bis vor genau vier Tagen sah ich alles dreifach! Mein lieber Himmel, wäre das ein Erlebnis gewesen, auch Sie als Drilling zu sehen! Ob ich das überlebt hätte?! Aber seit vier Tagen sehe ich wieder alles einzeln. Ich führe das darauf zurück, daß ich bei meinem Onkel mit dem Kopf gegen einen Balken gerannt bin. Es hat so niedrige Zimmerchen, das Onkelchen. Ich renne also gegen das Holz, mit vollem Schwung, es gibt einen Schlag, halb betäubt sinke ich auf die Eckbank, in meinem Kopf summen Bienenschwärme und macht es knack-knack-knack … Können Sie sich meine Angst vorstellen, Genossin? Aber dann komme ich zu mir, meine Umwelt wird wieder klar, ich erkenne meinen Onkel, der am Herd steht und in einem Kaschatopf rührt – und er ist kein Drilling mehr! Er ist allein! Alles um mich herum ist wieder normal. Geweint habe ich vor Dankbarkeit und den niedrigen Balken geküßt.«
»So etwas gibt es nicht!« sagte die Tscherskasskaja hart.
»Ich habe alle ärztlichen Papiere bei mir. Ich wäre ein Phänomen, sagte der Generalarzt Sakmatow . Aber was mache ich jetzt in Moskau? Was sage ich den Spezialisten, Ljudmila Dragomirowna? Meine Drillinge sind weg! Aber sie können wiederkommen – vielleicht habe ich einen besonders zartgebauten Kopf, der auf jede Prellung mit Triplopie reagiert …«
»Mit was?«
»Das ist ein neues Wort. Bisher kannte man nur Diplopie. Mir ist die Ehre zuteil geworden, die Medizin um einen neuen Begriff zu bereichern.«
»Wenn Sie wollen, schlage ich Ihnen auf den Kopf, damit Ihre Drillinge wiederkommen!« sagte die Tscherskasskaja mit ihrer seltsam singenden, die Knochen durchdringenden Stimme. »Seien Sie still! Nichts will ich mehr hören, Nikolai Antonowitsch. Es ist bedauerlich genug, daß in einem leidlich gut aussehenden Menschen solch ein Idiot steckt.«
Es ereignete sich dann auf der weiteren Fahrt nach Michailowskoje das seltene Schauspiel, daß in einem wie verrückt über die Straße tanzenden Jeep mit vier Milizionären und einem Zivilisten dieser junge, nicht uniformierte Bursche Opernarien sang, und zwar so gut, daß die Tscherskasskaja nach zwei Arien das Gas wegnahm und den Wagen zahmer fuhr, um keinen Ton zu verpassen. Tosca, Troubadour, Butterfly, La Boheme, Carmen … und nach jeder Arie klatschten die Milizionäre in die Hände und riefen: »Bravo! Bravo! Noch einmal, Kolka! Noch einmal!« Und Plejin sang sich durch das Repertoire der lyrischen Tenöre, bis sie den Stadtrand von Michailowskoje erreicht hatten.
Da hieß es wieder amtliche Würde verbreiten, und so fuhren sie stumm bis zur Milizstation. Kurz vor dem Ziel fragte die Tscherskasskaja: »Haben Sie genug Rubel?«
»Es reicht bis Moskau«, antwortete Plejin. »Dort komme ich ja doch in eine Klinik. Einschließen wird man mich. Das befürchte ich.«
»Warum sollte man Sie einschließen, Nikolai Antonowitsch?«
»Für die Ärzte bin ich ein Verrückter!«
»Nicht nur für die Ärzte.« Sie bremste und stützte die Ellenbogen auf das Lenkrad. »Wollen Sie privat übernachten oder im Milizgebäude?«
»Kann man sich das als Verhafteter wünschen?«
Die Tscherskasskaja wölbte die dünne Unterlippe vor, als wolle sie wie ein Lama spucken. »Steigen Sie aus!« sagte sie scharf. »Sie sind nicht wert, daß man sich um Sie kümmert. Zuerst aber weisen Sie Ihre Papiere vor!«
Plejin holte seine Schreiben mit den vielen schönen Stempeln aus der Brusttasche seines Anzuges und überreichte sie Ljudmila Dragomirowna. Sie überflog die Atteste, ohne sich die Mühe zu machen, die Stempel zu untersuchen, und gab die Papiere an Plejin zurück. Er hatte die Wahrheit gesprochen, und es zeigte sich wieder, daß die Wahrheit verrückter sein konnte als die idiotischste Kapriole: Genosse Plejin litt tatsächlich an der einmaligen Krankheit eines Dreifachsehens. Und er war auch Opernschüler des Opernstudios der renommierten Oper von Charkow. Ein hochinteressanter Mensch. Die Tscherskasskaja lächelte ihn milde an.
»Wie haben Sie sich entschieden?«
»Wo schlafen Sie, Ljudmila Dragomirowna?«
»Im Milizgebäude.«
Plejin breitete die Arme aus. »Ich folge Ihnen …«
Einen Augenblick zögerte die Tscherskasskaja. Ihre Augen verdunkelten sich und wurden noch schräger. Plejins Benehmen schien sie zu warnen – oder auch bei ihr war das unbegreifliche Phänomen aufgetreten, daß ihr Inneres anders fühlte, als ihr Mund sprach. Mit einem
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