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Sie waren zehn

Sie waren zehn

Titel: Sie waren zehn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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ein schwarzgelocktes Schwänchen über den Stuhl. Einen schönen Beruf haben wir, Fedja! Man vertraut uns! Ausgewählte sind wir! Das muß auch so sein. Vom Gerüst aus sehen wir in jedes Zimmer!«
    Iwanows Nasenflügel blähten sich, aber der Vorarbeiter, der Genosse Lumjanow, achtete auf solche Kleinigkeiten nicht. »Das ist wirklich eine Auszeichnung«, sagte Iwanow wie ergriffen. »Ich kann sie alle sehen?«
    »Gestern war Marschall Budjonny da. Vor drei Tagen Shukow. Berija sehen wir jeden Tag. Und Molotow … schon ein alter Freund! Neulich hatte er seinen Zwicker weggelegt und suchte ihn. Der Genosse Femjaw , der auf dem Gerüst stand, klopfte an die Scheibe und rief: ›Genosse, links auf dem Bücherregal!‹ Und Molotow setzte seinen Zwicker auf und ruft zurück: ›Danke, Genosse!‹ – So vertraut sind wir von der Baubrigade mit ihnen …«
    »Und Stalin?« fragte Iwanow gleichgültig. »Kann man auch Stalin sehen?«
    »Selten. Aber dreimal ist es gelungen. Ich hatte nicht das Glück. Der Genosse Wischnowskij hat Stalin direkt in die Augen geblickt, er war wie gelähmt vor Erschütterung. Stehen sich da gegenüber, nur getrennt durch ein Fenster, und sehen sich stumm an. Und was macht Stalin? Er wedelt mit der rechten Hand. Geh weg, sollte das heißen. Und der Genosse Wischnowskij steht draußen auf dem Gerüst stramm und vertrollt sich dann. Den ganzen Tag hat er vor Aufregung nichts essen können. Magenkrämpfe hat er bekommen. Jetzt erzählt er überall: Mir hat Stalin zugewinkt. Mir ganz allein! Nur glaubt ihm das keiner, sie lachen ihn aus. Wischnowskij ist seither mit den Nerven völlig herunter. Wir mußten ihn aus der Einschalungsbrigade versetzen zu den Betonmischern.« Lumjanow klopfte Iwanow auf die Schulter. »Du siehst, bei uns muß man gute Nerven haben!«
    »Daran soll es nicht scheitern«, sagte Iwanow. Lumjanow ahnte nicht, was hinter diesen Worten stand. »Wenn ich jemals Stalin allein sehe, werde ich nicht vor Schreck vom Gerüst fallen.«
    An diesem Tag bauten sie eine Gerüstetage vor den Fenstern des Sekretariats. Eine Freude war das! Ein Gackern wie auf einem Hühnerhof. Tamjenkin , ein rüstiger Fünfziger, der schon erwachsene Söhne hatte, die an der Front standen, benahm sich wie ein Auerhahn, turnte vor den Fenstern auf dem Gerüst herum, rief anzügliche Bemerkungen und zog einen Hemdzipfel durch den Schlitz seiner Hose, was lautes Kreischen hinter den Scheiben auslöste. Iwanow arbeitete fleißig, seilte die Bohlen in die Höhe, klammerte die Geländerbretter und blickte dabei in einige Zimmer, wo Offiziere oder Beamte mit wichtigen Mienen an Schreibtischen saßen, telefonierten, schrieben, Briefe lasen, Besuch empfingen oder gemütlich in Zeitungen blätterten. In einem großen Raum mit drei Fenstern fand eine Konferenz statt. An der Wand hing eine große Karte, und ein General erklärte den anwesenden Offizieren irgend etwas sehr Wichtiges.
    Die Karte erregte Iwanows Neugier. Sie stellte das Gebiet zwischen Polozk und Gomel dar und reichte bis Warschau und Königsberg. Rote Kreise und Striche und Pfeile waren auf ihr eingezeichnet, alle nach Westen gerichtet, dann nach allen Seiten abknickend und sich im Bogen vereinigend.
    Unser Mittelabschnitt, durchfuhr es Iwanow. Das Gebiet der Heeresgruppe Mitte von Generalfeldmarschall Busch. Das Herzstück unserer Front … Und was dort auf der Karte eingezeichnet steht, ist der Aufmarsch- und Offensivplan der sowjetischen Armeen, sind die Vorstöße der Panzergruppen, die Zangenbewegungen, die Einkesselung der deutschen Verbände, die Durchbruchstellen und die geplante Vernichtung. Nach dem, was dort auf der großen Karte rot leuchtete, gab es für die deutschen Armeen kein Entrinnen mehr – mit gewaltigen Keilen wollten die Sowjets die an sich schon dünne Linie der Deutschen aufreißen. Das erste Ziel der Offensive war schon fixiert: Hinter Minsk schloß sich der Kreis, während im nördlichen Teil der Stoß weiterlief in Richtung Litauen und südlich durch die Pripjet-Sümpfe nach Brest-Litowsk. Eine Kesselschlacht unvorstellbaren Ausmaßes.
    Iwanow klebte an seinem Gerüst und starrte auf die Karte und den ruhig erklärenden General. Er spürte das Klopfen seines Blutes in den Halsschlagadern wie einen würgenden Griff. Wann wird diese Feuerwalze losrollen, dachte er. Sind das da auf der Karte nur Theorien oder schon erfolgte Vorstöße? Er sah ganz vorn auf der Karte, von zwei dicken roten Pfeilen eingekreist, den Ort Mogilew.

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