Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sie waren zehn

Sie waren zehn

Titel: Sie waren zehn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
überall! Was wäre Rußland ohne seine Ärztinnen!
    Aber eine Frau, vor deren Schönheit man geradezu betroffen stehenbleibt, die oft zehn Stunden lang am Tag mit blutiger Schürze am Operationstisch steht, muß man gesehen haben! So gab es vom Personal der riesigen Botkin-Klinik kaum einen, der Anja Iwanowna nicht kannte. Ab und zu flog von Mund zu Mund eine neue Nachricht aus der Chirurgie: »Die Pleskina hat wieder mal eine unmögliche Operation gemacht: Eine Seit-an-Seit-Anastomese. Der Chef hat sich geweigert – und was tut sie? ›Ich übernehme die Verantwortung!‹ sagt sie und schneidet! Der Patient lebt! – Ja, unsere Pleskina!«
    Wer wundert sich da noch, daß Leonid Germanowitsch Duskow in der Botkin-Klinik sofort eine Anstellung als Hilfspfleger bekam? Und sogar eine bevorzugte Stellung: Er brauchte nicht im Stationsdienst zu arbeiten und – was sonst die Aufgabe der Hilfspfleger ist – die niedrigen Dienste zu übernehmen, sondern er wurde mit der Ausfüllung einer Lücke beauftragt, die Anja Iwanowna entdeckt hatte. Obgleich Duskows Tätigkeit völlig nutzlos war und dem Krankenhaus keinen Gewinn brachte, wagte niemand, der Pleskina zu widersprechen. Im Gegenteil, man lobte ihre tiefe Menschlichkeit, die man auch in Kriegszeiten nicht vergessen soll, und nannte ihre Idee einen Beitrag zur Krankenhausreform.
    Leonid Germanowitsch – als ehemaliger Gehilfe eines Sarghändlers mit der Aufbahrung und der Betreuung von Toten und ihrer Hinterbliebenen vertraut – übernahm die neu geschaffene Stellung eines Leichenfürsorgers. Zunächst nur für die Chirurgie, aber es war zu erwarten, daß sich auch die drei Inneren Kliniken anschlossen, deren Professoren herüberkamen und Duskow ehrfurchtsvoll bei der Arbeit beobachteten.
    Man hatte einen Raum mit Buchsbaumsträuchern in großen Kübeln dekoriert, zwei silberne mehrarmige Kerzenleuchter – der Kirche im Wagankowski-Friedhof entliehen – aufgestellt, die Fenster mit Tüchern verhangen, und – das war das wichtigste – ein Klavier hineingerollt. War ein Genosse oder eine Genossin gestorben und kamen die jammernden Verwandten, dann wurde der Leichnam nicht mehr aus einem nüchternen Kühlhaus herbeigekarrt, sondern ein schönes, weiß bezogenes Bett stand zwischen den Kerzen, der liebe Tote lag darin, als schliefe er nur, und im Hintergrund saß Duskow am Klavier und spielte mit viel Gefühl zu Herzen gehende Melodien. Meistens waren es Nocturnes von Chopin, die in ihrer singenden Traurigkeit die Seelen bewegten.
    Nach dem Klavierspiel mischte sich Duskow unter die Trauernden, sprach von dem Verblichenen, als habe er mit ihm schon als Kind Fische gefangen, lobte seinen hervorragenden Charakter, seine Klugheit, seine Schaffenskraft, seine Liebe zu Weib, Kind und anderen, die in Frage kamen, und sprach Worte, die wie Anker in die Herzen fielen.
    Die Professoren der drei Kliniken für Innere Medizin waren tief beeindruckt. Sie sahen zwar den Sinn dieser Inszenierung nicht ein; wer tot ist, wird weggerollt und fällt nicht mehr unter die Zuständigkeit des Krankenhauses. Aber da die Pleskina behauptete, die Medizin müsse vermenschlicht werden, hatte keiner etwas zu entgegnen.
    Schon am zweiten Tag war Duskow eine feste Institution. Betraten weinende Menschen die Botkin-Klinik, Abteilung Chirurgie, sagte der Pförtner sofort ohne zu fragen: »Block II, Gang 17, letzte Tür geradeaus. Friede sei mit dem Genossen.«
    Abends war Duskow früher in der Wohnung als Anna Iwanowna, die noch eine Spät-Visite machte und nach den Frischoperierten sah. Er backte dann Blinsen aus Quark, füllte sie mit durch viel Brot verlängertem Hackfleisch und ließ den alten Samowar brodeln. Kam die Pleskina nach Hause, war der Tisch gedeckt, eine Kerze brannte in einem Kranz aus sechs Rosen, die Duskow im Klinikgarten abgebrochen hatte, es roch köstlich nach den Blinis – wie ein Feiertag war es! »Leonid Germanowitsch, Sie sind ein Mensch mit einer Universal-Begabung«, sagte Anna Iwanowna. »Das haben Sie wirklich schön gemacht. Kochen können Sie also auch. Schuhmacher, Einsarger, Klavierspieler, medizinischer Autodidakt, Automechaniker, Dieb und notorischer Lügner. Welche Geschichte erzählen Sie mir jetzt, wo Sie kochen gelernt haben?!«
    »Sie werden es nicht glauben, Anna Iwanowna«, sagte Duskow und faltete die Hände andächtig über dem Magen. »Der Sarghändler in Kasan betrieb auch eine Gastwirtschaft. Sie lagen nebeneinander, das Sarglager und der Gastraum.

Weitere Kostenlose Bücher