Sie waren zehn
Sympathie für diesen Kyrill Semjonowitsch Boranow, dem durch eine deutsche Kugel verhinderten Helden. Außerdem war Boranow, wie Afanasiew, Akademiker, und auch das verbindet.
Eine kleine Verzögerung trat dennoch auf, aber sie war zu überwinden: Es gab bei der Moskauer Straßenbahn keine freie Stelle mehr. Wie bei allen amtlichen Arbeitgebern, stöhnte man auch bei der Bahnverwaltung unter dem Ansturm der ›empfohlenen Bewerber‹. Afanasiew, als Spitze der Verwaltung, sah keine andere Möglichkeit für Boranow, als eine neue Stelle zu schaffen, die es bisher noch nicht gegeben hatte: Fahrbereitschafts-Kontrolleur.
Das klang gewaltig, war aber ein gemütlicher Posten. Boranow hatte nur darüber zu wachen, daß alle Straßenbahnwaggons in gesäubertem Zustand die Depots verließen, mit gekehrten Böden, geputzten Scheiben, abgewischten Haltestangen und geschrubbten Außenwänden. Dafür gab es eine Reinigungsbrigade aus Frauen, was Lyra Pawlowna gar nicht gefiel, denn eine Kompanie ausgehungerter Weiber stellte auch für einen charakterfesten Mann wie Kyrill Semjonowitsch eine ständige Versuchung dar.
Auch eine komplette Uniform gab es nicht mehr. Boranow konnte nur einen Rock kassieren, aber da half der Architekt Sharenkow; er besorgte eine dunkle Hose und ein weißes Hemd. »Ein Kontrolleur muß Respekt erzeugen!« sagte er ganz richtig. »Schon von weitem muß man sehen: Aha, da kommt ein Mensch, der etwas zu sagen hat! Ehrfurcht ist die Grundlage des Zusammenlebens.«
Sharenkow hatte noch viele solcher Sprüche in Reserve; er konnte sich selbst daran berauschen. Dann drehte er sich zufrieden eine Papyrossa und rauchte sie, als habe er ein opulentes Mahl verschlungen.
Boranow war mit seiner Stellung sehr zufrieden. Schon am ersten Tag, nachdem er seine Putzbrigade begrüßt hatte und feststellen mußte, daß über die Hälfte aus jungen, hübschen Mädchen bestand und er somit in einen permanenten Abwehrkampf kämpfen würde, fuhr er kreuz und quer durch Moskau, besichtigte drei Außendepots und genoß unangefochtene Freiheit hinter dem Schirm seiner Uniform.
Für ihn war es jetzt leicht, zum verabredeten Treffen bei Milda Ifanowna zu erscheinen. Niemand kontrollierte ihn, den Kontrolleur, niemand beobachtete ihn, keiner wußte, wo er gerade seine Stichproben ansetzte. Wo immer er auch auftauchen würde – es war seine eigene Entscheidung.
»Soviel Glück hätte ich mir nie erträumt«, sagte Boranow am Abend des ersten Tages bei der Moskauer Straßenbahn. Sie saßen wieder vor dem Radiogerät und aßen eine Suppe aus Rübenschnitzeln, verfeinert durch ein wenig angebratenen Speck.
Und Marja Iwanowna, die Mutter, sagte mit glänzenden Augen: »Ja ja. Einmal kommt auch die Freude zu uns. Greifen Sie zu, Kyrill Semjonowitsch! Hier ist noch ein Stückchen Speck.« Es war schwer zu sagen, wer in Boranow mehr verliebt war: Mütterchen Marja oder die Tochter Lyra Pawlowna.
Das Botkin-Krankenhaus ist eine kleine Stadt für sich. Wer sich da nicht auskennt, verläuft sich heillos in den Gängen, es wimmelt von vielen tausend Menschen von den Kellern bis zum obersten Stockwerk, ja, man erzählt sich sogar, daß ein taubstummer Patient, ein Bäuerchen aus der Gegend von Kunzewo, fünf Tage lang herumgeirrt sei, um ein Glas mit Urin loszuwerden, bis er schließlich völlig erschöpft und entkräftet in einer Ecke der Augenklinik gefunden wurde. Ganz klar, daß man sich dort weigerte, seinen Urin anzunehmen, denn Augenkrankheiten diagnostiziert man nicht beim Pinkeln, aber da der Mann gar so flehentlich unverständliche Laute ausstieß, brachte man ihn schließlich zum Labor, das er seit fünf Tagen gesucht hatte.
Man muß um die Ausmaße des Botkin-Krankenhauses wissen, will man begreifen, was es bedeutet, daß jeder in dieser kleinen Stadt der Kranken die Ärztin Anja Iwanowna Pleskina kannte.
Ihre wilde Schönheit war nicht allein der Grund. Sie war auch berühmt als Chirurgin. Ärztinnen gab es genug in Moskau, wie überhaupt das Gesundheitswesen in Rußland zum größten Teil von Ärztinnen bestimmt wird. Überall findet man sie, wo sonst harte Männer ihre Nerven verlieren: In den Krankenstationen der Gefangenenlager, der Strafkolonien, der Arbeitslager, inmitten der ›Toten Seelen‹ im fernsten Sibirien, und auch vorn, unmittelbar hinter der Front, auf den Hauptverbandsplätzen, in den fahrbaren Lazaretten, auf den Auffangplätzen, in den Verwundetenzügen, in den Heimatlazaretten – einfach
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