Sie waren zehn
gleich.«
Sharenkow, dessen Architektenideen und Pläne so gigantisch waren, daß selbst die Moskauer Stadtplaner davor zurückzuckten und Sharenkow beschworen, gemäßigter zu denken, verfiel in Nachsinnen, drehte sich eine Zigarette und sagte endlich: »Man muß zugeben: Boranow ist ein anständiger Mensch. Will man mehr in unserer schrecklichen Zeit? Heiratet! Geben wir die Hoffnung nicht auf, daß er nach dem Krieg wieder als Biologe arbeiten und seine künstlichen Besamungen wiederaufnehmen kann.«
Als die Siegesmeldungen im Radio begannen, hatte Sharenkow eine große Karte von Rußland an die Wand geheftet und vom Städtischen Bau- und Planungsbüro kleine Steckfähnchen mitgebracht. Rote Fähnchen für die Rote Armee, gelbe Fähnchen für die Deutschen. Jeden Abend saßen sie dann vor der Karte und steckten die Gebietsgewinne der Sowjets ab, kreisten die Deutschen ein, eroberten Städte, durchbrachen Stellungen, so wie es die Nachrichtensprecher verkündeten. Für Boranow war es eine Seelenqual. Er mußte an der Karte stehen und die Fähnchen stecken, während Sharenkow mit enthusiastischer Stimme rief: »Näher, mein lieber Kyrill, näher an Minsk heran! Warum zögern Sie bei Bobruisk? Da sind die verfluchten Deutschen umzingelt, da werden wir sie in einem Kessel zusammendrücken! Ha, ist das ein Anblick! Muß man ein starkes Herz haben! Überall unsere roten Fahnen! Kyrill Semjonowitsch, noch zwei rote in Richtung Polozk! Da wird etwas geschehen, da hören wir morgen mehr. Ich spüre es.«
Boranow verrichtete schweigend seine Arbeit, steckte die Fähnchen und saß dann mit Pawel Ignatiewitsch noch zusammen, für eine Tasse Tee. Meistens ging er hinterher mit Lyra noch durch den milden Sommerabend spazieren, um die Häuserblocks herum, und erst dann konnten sie sich küssen, standen in dunklen Toreinfahrten oder fuhren hinaus zum Kleinen Botanischen Garten, wo es Bänke gab, von Liebespaaren bevölkert, die unter dem gleichen Schicksal litten, einem verträumten, ungestörten Plätzchen im überfüllten Moskau nachjagen zu müssen. Hier, auf einer Bank in einer Buschnische, sagte Lyra Pawlowna zu Boranow: »Wer kann das begreifen? Ich liebe dich! Wie kann man so etwas wie dich lieben?«
»Es ist wirklich unbegreiflich.« Sie küßten sich, aber als Boranow seine Hand über Lyras Brust schob, begann sie zu zittern und krallte die Finger in seinen Nacken. Zwanzig Jahre war sie alt, und nie war bisher ein Mann näher an sie herangekommen als bis zu einer Umarmung beim Tanz. Auch das war selten genug gewesen; in den Komsomolzenhäusern war das Tanzen sofort eingestellt worden, als die Deutschen in Rußland einmarschierten. Dafür exerzierte man mit Gewehren, lernte schießen, übte Handgranaten werfen und bediente leichte Granatwerfer. Das hörte auf, als Lyra Pawlowna ihre Stelle bei der Moskauer Straßenbahn antrat, aber auch hier schlug sie jedem Mann auf die Hände, der sie nach ihr ausstreckte.
»Oh, ich liebe dich«, sagte sie wieder und wurde dabei steif wie ein Brett. Weit waren ihre Augen, mit Angst erfüllt, und doch voll Sehnsucht nach dem Unbekannten, nur Gefühlten. »Kyrill, überall sind Augen …«
»Es bleibt uns nur ein Grasbett. Lyranja, unsere Zeit ist so kurz …«
Sie nickte, kuschelte sich an ihn, schlang die Arme hinter seinem Rücken zusammen und blähte die Nasenflügel, als Kyrills Hand unter ihre Bluse glitt und sie liebkoste an Stellen, wo es wie elektrische Schläge durch ihren Körper zuckte. Unser Leben ist viel zu kurz, hörte sie Pawel Ignatiewitsch sagen. Manchmal hatte Väterchen einen philosophischen Tag, saß traurig herum, starrte gegen die Wand und ließ weise Sprüche los. Marja Iwanowna ließ dann ihren Mann in Frieden, stickte an einer Decke und spielte die Klagemauer, gegen die Sharenkow seinen Weltschmerz schleuderte. So kurz ist das Leben … und erschreckend kurz erscheint es, wenn man sich so liebt wie Lyra und Boranow.
»Such dir ein Zimmer«, flüsterte sie mit jagendem Atem. Ihr Schoß wurde heiß, etwas nie Erahntes begann in ihr zu kreisen. »Wir – wir müssen ein Zimmer haben, Kyrill.«
»Tausende suchen ein Zimmer. Man wird mich auslachen bei den Ämtern.«
»Wie soll das werden? Oh, mein Schatz, was soll aus uns werden?«
Sie begann zu zittern, riß Boranows Hand unter ihrem Rock hervor und bedeckte sein Gesicht mit schnellen Küssen, was wie ein Bitten um Verzeihung war.
»Wenn wir heiraten«, sagte sie, »bekommen wir ein eigenes Zimmer.
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