Sie waren zehn
Zeitung, hörte aber gespannt auf Hans Fritzsche, blickte dann wieder bittend zu Anna Iwanowna, die ihren Kochlöffel an die Lippen gelegt hatte, und rief einmal dazwischen:
»Fürchterlich! Meine Ohren schmerzt es! Welch eine barbarische Sprache, dieses Deutsch!«
»Wenn du sie erst verstehen könntest.« Die Pleskina setzte sich neben Duskow auf die Sessellehne und zeigte mit dem Kochlöffel auf das Radio. »Jetzt sagte er, Deutschland habe Rußland schon fast besiegt! Das muß man sich anhören! Fast sollte man Mitleid haben mit den Deutschen.«
»Warum?« Duskow neigte den Kopf. Die Verlesung war beendet. Ein anderer Sprecher sagte: »Es sprach Hans Fritzsche.« Also doch, dachte Duskow, ich habe mich nicht geirrt. Welch ein Gefühl, in Moskau als unerkannter deutscher Offizier, an der Seite der schönsten Frau, so etwas zu hören.
»Die Deutschen glauben das alles!« sagte die Pleskina. »Sie hören es und glauben fest daran, daß sie Rußland vernichten können.«
»So wird es sein!« sagte Duskow. Er beugte sich vor, schaltete auf Radio Moskau um und stellte leiser. Schon wieder Marschmusik.
»Sie werden dafür büßen müssen.«
Duskow atmete tief durch.
Er blickte zu Anna Iwanowna hinauf und tippte gegen ihren hölzernen Kochlöffel.
»Was kümmert's uns?« fragte er. »Sind die Deutschen auch nur einen Gedanken wert? Lauf zu deinen Gurken! Brennen sie nicht an? Das ist viel wichtiger …«
Nach dem Essen hörten sie Wagner von Schallplatten. ›Lohengrin‹ – ›Tannhäuser‹ – ›Die Meistersinger von Nürnberg‹. Aufnahmen von Furtwängler und Toscanini. Duskow hatte die Hände gefaltet, das Kinn darauf gestützt und war im Sessel nach vorne gerutscht. Die Augen hielt er geschlossen, in sein für einen Mann fast zu schönes Gesicht hatten sich an den Mundwinkeln tiefe Falten eingegraben.
Duskow blutete nach innen. Du schönes Deutschland, dachte er. Was wird aus dir werden? Was machen sie aus dir? Gott im Himmel, wie soll das weitergehen?
Anna Iwanowna hockte zu seinen Füßen auf dem Fußboden und hatte ihren Kopf auf seinen Schenkel gelegt. Dieser in die Nacht übergleitenden Abendstunde, in der das Zimmer nur von einer Kerze erhellt wurde und die Musik allein den Raum ausfüllte, galt ihre Sehnsucht den ganzen Tag über. Darauf freute sie sich, ihr lebte sie entgegen: Mit Leonid Germanowitsch allein zu sein, ihn zu fühlen, ihn atmen zu sehen, seine Stimme zu hören, die Zärtlichkeit in seinen Händen und aus seinen Lenden zu ahnen, bis die Nacht zum Geschenk, zur Erfüllung wurde – und um sie herum der Rausch von Tönen, der Gedachtes, Erfühltes, Unaussprechliches Wirklichkeit werden ließ.
»Warum Wagner?« fragte Duskow. Die Pleskina blickte zu ihm hoch. Eine fremde Stimme, in Klage eingebettet, wie mit Tränen durchsetzt.
»Seine Musik kann mich betäuben«, antwortete sie. »Er ist ein Deutscher.«
»Beethoven und Bach auch.« Sie schlang den Arm um seine Beine und drückte ihren Kopf in seinen Schoß. »Was ist bloß aus den Deutschen geworden, die solche Musik schreiben konnten …«
Duskow schwieg. Seine Mundwinkel zuckten, aber das sah Anna Iwanowna nicht. O könnte ich jetzt schreien, dachte Duskow. Könnte ich doch aufspringen und irgend etwas zerschlagen. Könnte ich doch diesen Druck loswerden, der mich abwürgt.
Im fernen Land, unnahbar euren Schritten
liegt eine Burg, die Monsalvat benannt …
Lohengrin. Gralserzählung. Die Stimme von Franz Völker. Der Ausflug der Familie des Freiherrn von Baldenow nach Berlin. Gewohnt wurde standesgemäß im Hotel Adlon. Pflichtbesuch: Die Staatsoper Berlin. Mama im langen Seidenen, Papa mit Ordensbändchen im Knopfloch. 1914 – 1918. Bis zum Oberst hatte er es gebracht, dann unterbrach die Revolution seine Karriere. »Diese ehrlosen kommunistischen Lümmel! Diese Sozi-Brut!« Originalton Freiherr von Baldenow bei politischen Diskussionen mit seinen Kindern. Damals war es ›Fidelio‹ von Beethoven. Und heute ist es ›Lohengrin‹ …
»Stell es ab!« sagte er heiser. »Bitte, Anuschka, stell ab! Leg einen Walzer auf, eine Operette, ein Sauflied, alles … nur nicht mehr diese Musik. Nicht heute … Bitte, Anuschka!«
Sie sprang auf, stellte das Grammophon ab, lief zu Duskow zurück und beugte sich über ihn.
»Müde bist du«, sagte sie zärtlich und streichelte sein Gesicht. »Laß uns schlafen.« Sie feuchtete die Fingerspitzen an und strich mit ihnen über die scharfen Falten an seinen Mundwinkeln. »Wegbügeln
Weitere Kostenlose Bücher