Sie waren zehn
hier auf eine der Pendelwachen, die Tag und Nacht durch den Kreml patrouillieren. Auch sie hatten heute ein Sperrgebiet zugewiesen bekommen. Der Senatsturm war der äußerste Punkt.
Der Unterleutnant setzte sich auf eine Bank und nahm die Mütze ab. Schweiß bedeckte sein Gesicht. »Sonderausweis L!« sagte er, als die beiden Soldaten ihn kritisch musterten. »Kann ich hier sitzen bleiben?«
»Bis sie zum Denkmal werden, Genosse«, sagte der Posten, ein Sergeant. »Dann wird man sie aber bestimmt umstellen …«
Sie lachten, der Unterleutnant verteilte Papyrossi, und beim Rauchen entwich langsam seine Beklemmung.
Für die kleine Seitentür hatte Radowskij einen Schlüssel. Er schloß auf und nickte dann Smolka zu. Der Oberst öffnete die Tür des zweiten Wagens und sagte in die völlige Dunkelheit hinein:
»Genosse Generalissimus, Sie können aussteigen.«
Auf der anderen Seite des Wagens flog die zweite Tür auf. Zu beiden Seiten stiegen drei Marschälle aus. Drei Stalins. Sie blickten mit zusammengekniffenen Augen um sich, zogen den Rock gerade, strichen mit dem Zeigefinger kurz über den buschigen Schnauzbart und gingen dann, mit ihren stämmigen Beinen kräftig auftretend, auf Radowskij zu. Der Eindruck war so gespenstisch, daß Radowskij wieder einen trockenen Hals bekam. Die drei Stalins blieben stehen und warteten, bis Smolka an ihrer Seite war.
»Das halten keine russischen Nerven aus!« sagte Radowskij gepreßt. »Igor Wladimirowitsch, wie überstehen Sie das bloß?«
»Ich habe mich daran gewöhnt, Genosse General.«
»Weil Sie mit der Fassade spielen – das ist es. Wären Sie täglich um ihn …« Radowskij sprach den Satz nicht weiter. »Sie haben Glück, Smolka.«
»Darauf baue ich meinen ganzen Mut.«
»Stalin hat zwei Gläschen – oder mehr getrunken. Er ist bester Laune. Hat ein paar Witzchen erzählt und Molotow einen Kürbis mit Brille genannt. Sicherster Beweis, wie leutselig er heute ist.«
»Nummer 4!« sagte Smolka ruhig. Radowskij blieb stehen. Sie gingen gerade eine ziemlich steile, enge Treppe hinauf.
»Was heißt denn das?«
»Wir haben bei den Übungen Stalins Auftreten in verschiedenen Verhaltensgruppen eingeteilt. Stalin als Feldherr, Stalin bei der Parade, Stalin bei Besichtigungen, Stalin in privaten, aber sichtbaren Stunden, Stalin bei Vorträgen, Stalin bei Empfängen … Nummer 4 ist Stalin im kleinen Kreis nach dem Genuß von Alkohol. Mäßiger Genuß …«
»Ein gefährlicher Mensch sind Sie, Igor Wladimirowitsch!« sagte Radowskij mit belegter Stimme. »Ein ungemein gefährlicher Mensch …«
Sie kamen in die große Diele, gingen einen langen Korridor hinunter und betraten einen mittelgroßen Raum, der erstaunlich bürgerlich eingerichtet war. Tisch- und Stehlampen mit gerafften Seidenschirmen beleuchteten ihn, die Fenster waren mit dichten Portieren verhängt. Was Smolka sofort auffiel, als er eintrat, war der im Zimmer hängende Geruch nach einem herben Tabak.
Der Pfeifenraucher Stalin.
Die drei Doppelgänger sahen sich ohne jede Scheu um, ganz in ihre Rolle hineingewachsen, und blieben mitten im Zimmer stehen. Smolka kaute an der Unterlippe, als Radowskij an ein Telefon ging und den Hörer abnahm. Er drehte nur eine Zahl. Irgendwo klingelte es jetzt. Das Zeichen, auf das Stalin wartete.
Die drei Doppelgänger nahmen ihre Mütze ab. Ihre eisgrauen wuchtigen Schädel beherrschten den vom weichen Licht ausgeleuchteten Raum. Mit zusammengezogenen Brauen fixierten sie die Tür. Unheimlich, dachte Radowskij. Einfach unheimlich. Genauso starrt er auf seine Besucher, wenn er ärgerlich ist. Aber er kann auch von sonniger Freundlichkeit sein, von einem tapsigen Charme, voll witziger Gelassenheit oder betriebsamer Gastgeberlaune, wie damals bei der denkwürdigen, aber idiotischen Konferenz und Paktunterzeichnung, wo der deutsche Außenminister von Ribbentrop ihm die Hand schüttelte und das Nazipartei-Abzeichen auf Ribbentrops Anzugrevers leuchtete. Meistens aber ist sein Blick hart und zwingend … Zwei Augen voll hypnotischer Kraft. Wenn Smolka einmal gefragt werden sollte, was an die Grenze des Erträglichen geht, dann wird er antworten: Fünf Minuten in meinem Leben. Am 4. Juli 1944. Ich stand in einem gemütlichen Raum und wartete auf Stalin. Ein Gefühl hatte ich, als schrumpfte ich zu einem Greis …
Die Tür im Hintergrund flog auf. Mit großer Kraft war sie aufgestoßen worden. In der Öffnung stand Stalin, bekleidet mit seinem Uniformrock – wie Radowskij
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