Sie waren zehn
ein beschenktes Kind. – Das ist ein echtes Problem, Genosse Oberst. Sie sollten Duskow auswechseln, nicht mich.«
»Es war auch nur ein Gedanke – es ist vorbei. Es war interessant, sich mit Ihnen zu unterhalten, Kyrill Semjonowitsch.« Renneberg ging zur Tür.
»Danke, Genosse Oberst.«
Er wandte sich ab und blickte wieder aus dem Fenster. Hinter ihm schnappte das Schloß ein. Er begriff noch nicht, was er gehört hatte: von Witzleben, Canaris, Rommel – sie alle Hitlers Gegner? Stalins Tod der Auftakt einer weltweiten Änderung?! Er zog die Schultern hoch und stützte sich mit beiden Armen auf das Fensterbrett. Ihn fror vor der Ungeheuerlichkeit und dem Ausmaß der Aufgabe, zu der man ihn befohlen hatte und die er, gehorsam, wie man es von ihm erwarten durfte, auch übernommen hatte.
Petrowskij kam herein, eine Zigarette im Mundwinkel, die Hände in den Hosentaschen.
»Machst du mit?« fragte er.
»Was?«
»Wir feiern Mildas ›Niederkunft‹ … Bei Piotr Mironowitsch auf dem Zimmer.«
»Stoßt für mich mit an!« Boranow schüttelte den Kopf. »Ich bin zu müde. Das Fallschirmtraining heute … Ich habe keine Knochen mehr. Seid nicht böse, Brüderchen.«
»Dann bis morgen, Kyrill Semjonowitsch.«
»Bis morgen, Luka Iwanowitsch.«
Wir werden mißbraucht, dachte Boranow und legte sich angezogen auf sein Bett. So oder so, für welches Ziel auch immer – wir werden schlicht mißbraucht! Und obwohl wir das wissen, machen wir mit! Das soll mir einmal jemand erklären. Hier sind die Grenzen der Psychologie, hier stößt die Ergründung des Menschen an eine Mauer.
Zwischen dem 18. und 25. Juni werden wir rund um Moskau abspringen und in die Stadt einsickern zu Milda Ifanowna. Und wenn nur einer von uns durchkommt, dieser Einsame wird versuchen, den Befehl auszuführen.
Töte Stalin!
Wer kann mir erklären, was wir für Menschen sind …?
Der kleine wendige Nachtaufklärer brummte in beträchtlicher Höhe über das Gebiet von Minsk in Richtung Smolensk - Moskau. Deutsche Scheinwerferbatterien tasteten den Himmel ab, aber der war über diesem Gebiet bedeckt, die Strahlenfinger verfingen sich in den Wolken, wurden wie von Watte aufgesogen, zerflossen in ein trübes milchiges Licht. Die Kanoniere an den Flakgeschützen warteten, aber vom technisch Schießenden kam kein Befehl, keine Durchsage, keine Zielangabe. Er fliegt zu hoch, hieß es überall. Und dann ein Einzelgänger. Es lohnt sich nicht. Muß überhaupt ein Idiot sein. Was will der Junge so weit da oben am Himmel? Er sieht von oben genausowenig wie wir von unten.
Der Nachtaufklärer passierte die deutschen Linien und überflog kurz darauf Smolensk. Die sowjetische Luftabwehr reagierte auf das ferne Brummen schläfrig. Ein Deutscher nachts in der Luft? Also ist es einer von uns. Laßt euch nicht stören, Genossen, ruht euch noch aus. Der große Tag des Sieges ist nicht mehr fern.
Ein ganz wackerer Leutnant rief dennoch das Luftgeschwader in Kalinin an.
»Er kommt von Westen!« sagte er dem wachhabenden Kameraden Offizier.
»Das ist richtig.«
»Wieso ist das richtig?«
»Weil sowjetische Flugzeuge grundsätzlich nur noch nach Westen fliegen und – wenn sie nach Osten zurückkommen – von Westen anfliegen. Ist das klar, Genosse?«
»Völlig klar. Gute Nacht.«
Der Nachtaufklärer brummte weiter nach Moskau. Er hatte keine Nummer, keine Bezeichnung, keine Nationalitätskennzeichen. Er war graugrün gestrichen und hob sich gegen den Himmel überhaupt nicht ab. Hinter Wjasma ging er tiefer, durchstieß die Wolkendecke und orientierte sich an dem breiten Band der Rollbahn. Kolonnen von Lastwagen und Artillerie fuhren nach Westen. Auf der parallel verlaufenden Bahnlinie stauten sich die Güterwagen.
Munition. Material. Menschen.
»Wir fliegen jetzt einen Bogen und nähern uns Moskau von Kaluga her«, sagte der Oberfeldwebel am Steuerknüppel. »Dann überfliegen wir bei Sjerpuchow die Oka und erreichen das Zielgebiet östlich Michnjewo. Über dem Flußtal der Lopassnja setze ich Sie dann ab. Alles fertig?«
»Alles fertig.«
Milda Ifanowna überprüfte noch einmal ihre Ausrüstung. Die Gurte saßen gut, die Reißleine würde sie festhalten, wenn sie sprang. Den Kopf hatte sie in eine Lederkappe gepreßt; über ihre bäuerliche Kleidung hatte sie einen Trainingsanzug gezogen. Sie fror erbärmlich in dieser Höhe, massierte immer wieder ihre Beine und hieb die Fäuste gegeneinander. Vor ihrer Brust hing ein zu einem Beutel geknotetes altes
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