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Sie waren zehn

Sie waren zehn

Titel: Sie waren zehn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Kopftuch. Sie würde es später in der Hand tragen, wie alle Bäuerinnen, wenn sie etwas wegbrachten. Das war das einzige große Risiko, daß jemand sie anhielt und sagte: »Was trägst du da in deinem Beutelchen, mein Täubchen? Laß einmal sehen!« Dann würde der Genosse von der Miliz große Augen machen, denn statt ein paar Eierchen, die man heimlich verkaufen wollte, würden zutage kommen: ein kleiner, aber starker Kurzwellensender, zwei Schlüssel für eine Haustür und eine Wohnungstür, ein Roman von Tolstoi, auf dessen Seiten bestimmte Buchstabengruppen den Code ergaben, und ein Paket mit fünftausend Rubeln in kleinen Scheinen. Das Wichtigste aber hing in einem goldenen Medaillon zwischen Mildas schönem, starkem Busen: eine Gelatinekapsel mit Zyankali.
    Ein Verhör der Kabakowa war damit ausgeschlossen.
    Der Feldwebel in der Kanzel zeigte nach unten. »Die Oka!«
    »Ich sehe sie.«
    »Noch zehn Minuten. Ich gehe auf Sprunghöhe.«
    »Verstanden.«
    Ein nüchterner Dialog am Abgrund zum Ungewissen. Milda Ifanowna blickte in die Tiefe. Der Aufklärer verlor an Höhe, drosselte den Motor und stellte ihn schließlich ab. Im lautlosen Gleitflug kam das Land näher – ihr Land, ihr Rußland, das von ihrer Familie nur Blut gefordert hatte und das sie trotzdem liebte mit einer Verzweiflung, aus der ihr ungeahnte Kräfte zuwuchsen. Die Wälder von Michnjewo. Schwach schimmerte ein gewundenes Band durch das dichte Grün. Das Flüßchen Lopassnja.
    Weit und breit kein Licht, kein Haus, keine Siedlung. Nur der schwarzgrüne Waldteppich und der Fluß.
    »Fertig?« rief der Oberfeldwebel.
    Milda kontrollierte zum zehntenmal: Schultergurt, Leibgurt, Schenkelgurt. Der Verpackungssack fühlte sich wie ein Eisklumpen an. Den Fallschirm darin, aus Seide, hatte sie selbst zusammengelegt, auf den breiten Falttischen der Fallschirmjäger. Es war ihr wie ein Zeremoniell vorgekommen, das den Eingang zu Leben oder Tod freigab. Ein paar verhedderte Fangleinen, ein lächerliches Versagen der Reißleine – und schon würde der Verpackungssack nicht mit dem allen routinierten Springern so vertrauten lauten Schmatzen aufreißen. Sekundenlang würde man glauben, ein Vogel zu sein, tatsächlich durch die Luft segeln zu können mit ausgebreiteten Armen und Beinen, bis dann die Luft hart würde wie ein Brett und der Kopf wie ein Hammer mit blitzschnellen Schlägen dagegenhieb und eine ungeheuer rauschende Dunkelheit öffnete.
    Es tröstete Milda Ifanowna, was der junge Fallschirmjäger-Kompaniechef gesagt hatte: »Die meisten, die aus solchen Höhen ohne Fallschirm aufschlagen, sind bereit bewußtlos und merken nichts mehr. Das haben Versuche gezeigt. Garantieren kann man das natürlich nicht; es hat noch keiner, der als menschliche Granate in den Boden eingeschlagen ist, erzählt, was er empfunden hat …«
    »Sprungziel!« rief der Oberfeldwebel. Der Nachtaufklärer flog einen weiten Bogen über das Flüßchen Lopassnja und kehrte im lautlosen Gleitflug zurück. »Jetzt!«
    »Jetzt! Ich danke Ihnen.«
    »Ich bete für Sie«, sagte der Junge am Steuerknüppel tonlos.
    Milda Ifanowna stieß sich ab. Mit dem Kopf zuerst stürzte sie sich in den Nachthimmel. Einen Augenblick schien sie wirklich schwerelos zu schweben, die wahnsinnige Illusion, in der Luft hängenzubleiben, überflutete sie mit einer Euphorie, die tödlich sein konnte … Dann fiel sie, spreizte weit Arme und Beine, die sogenannte X-Lage, zählte einundzwanzig … zweiundzwanzig … dreiundzwanzig … vierundzwanzig … und riß dann an der Leine.
    Mit einem explosionsartigen Knall riß an ihrem Rücken der Packsack auf. Der Fallschirm zischte heraus, entfaltete sich, blähte sich gegen den Nachthimmel zu einem ungeheuren Dom und riß Milda in der Luft herum. Ein paarmal pendelte sie in ihren Gurten, dann hing sie senkrecht, griff in die Haltegurte, strampelte mit den Beinen wie ein übermütiges Kind und starrte nach unten. Wald und Fluß kamen ihr langsam entgegen. 5,5 Meter falle ich in der Sekunde, dachte sie. Das hat der Leutnant gesagt. Er nannte es Sinkgeschwindigkeit. Wie sanft das alles ist, wie losgelöst von allem Irdischen, nicht mehr vergleichbar mit den vielen Trainingssprüngen, die hinter ihr lagen.
    Der Aufklärer, noch immer im Gleitflug, zog einen tieferen Kreis. Mit zusammengekniffenen Augen und Lippen starrte der Oberfeldwebel auf den zum Fluß wegtreibenden Fallschirm. Die schönste Frau, die er bisher gesehen hatte, fiel dort in ein geheimnisvolles

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