Sie waren zehn
Schicksal.
»Scheißkrieg!« sagte der junge Pilot, nickte dem Fallschirm noch einmal nach und entfernte sich nach einem weiten Gleitbogen von der Absprungstelle. Dann stellte er den Motor wieder an, zog das Flugzeug steil nach oben und nahm Kurs auf Kaluga.
Das Abschiedswort seines Kommandeurs fiel ihm ein: »Fritz, und wenn es Klumpenscheiße regnet: Sie müssen die Dame ins Ziel bringen! Ob Sie dann noch zurückkommen, überlasse ich Ihrem Glück. Aber die Dame muß sicher 'runter!«
»Ich komme zurück!« sagte der Oberfeldwebel laut. Er schrie es jetzt, in dreitausend Meter Höhe, zwischen Kaluga und Smolensk. Sowjetische Scheinwerfer tasteten den Himmel ab, die riesigen Strahlenarme griffen nach ihm, polypenhaft, saugend, ihn aus den Sternen reißend. Er schoß in die Wolken hinein, spielte Verstecken mit diesen gnadenlosen Lichtfingern, stieg und ließ sich im Sturzflug fallen, wandte alle Tricks an, die er so vollendet beherrschte, er, ein alter Flughase, mit über zweihundertdreiundsechzig Feindeinsätzen als Aufklärer – er schwebte jetzt wieder mit abgestelltem Motor über den Wolken, glitt in ein Wolkenloch, streifte einen der Strahlenfinger, gab volle Pulle und schoß wieder in die Wolken zurück.
»So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage!« grölte er, als er eine riesige Wolkenwand ansteuerte und sich in sie einwickelte, unerreichbar für Scheinwerfer und Flak.
Noch zehn Minuten, dann war er über Smolensk. Guter Gott da oben, breite einen Wolkenteppich aus, damit ich auf ihm nach Hause gehen kann. Wird doch nicht so schwierig sein, ein paar dicke Wolken zwischen mich und die sowjetische Flak zu ziehen. So wie jetzt … Jetzt ist es gut! Mitten in einer Suppe!
›Herr Hauptmann‹, würde er melden, ›Oberfeldwebel Fritz Stolte vom Einsatz zurück. Ziel erreicht. Die mitfliegende Person planmäßig abgesetzt. Keine besonderen Vorkommnisse …‹
Um die Mittagszeit diktierte der Kommandeur des Aufklärungsgeschwaders, Hauptmann Grossjung, dem Ia-Schreiber seinen Bericht:
»Vom Feindflug im Sonderauftrag OKW nicht zurückgekehrt: Oberfeldwebel Fritz Stolte. Schicksal der Begleitperson unbekannt …«
Ein neues, winziges Rätsel dieses Krieges. Es lohnte nicht, darüber nachzudenken.
Am 18. Juni 1944 saßen die zehn wieder im Schulungsraum. An der Wand hing die Karte: Moskau und Umgebung. Ein Kreis von einhundert Kilometern rund um die Stadt.
Oberstleutnant Hansekamm stützte sich auf den Zeigestock, er wartete wie die zehn auf Oberst von Renneberg. Irgend etwas lag in der Luft; sie spürten es alle. Vor allem, als Hansekamm gesagt hatte: »Sie dürfen rauchen!«, war jedem klar, daß eine Ausnahmesituation eingetreten war. Ungewißheit und Spannung klammerten sich an sie, als läge ein Zentnergewicht auf ihrem Brustkorb.
Moskau und Umgebung.
Es ist soweit, dachte Boranow. Die Wildgänse werden freigelassen zu ihrem Todesflug nach Osten. Hinter uns bleibt die Leere … die Briefe mit unserem Vermißtenschicksal sind bereits an unsere Verwandten abgeschickt worden. Ab heute werden wir in die Luft geworfen. Nun fliegt … fliegt … ihr Vogelfreien … Rettet die Welt vor dem Bolschewismus! Mein Gott, von Tag zu Tag wird uns der Wahnsinn klarer, für den wir hier erzogen werden.
Renneberg trat ein, etwas unterkühlt, wie immer, seine blaue Pappmappe unter dem Arm, und tat etwas, das verhaltene Heiterkeit erzeugte: Er winkte an der Tür ab. Nicht aufstehen, meine Herren, keine Ehrenbezeigungen!
Die zehn lümmelten sich auf ihren Stühlen. Sie grinsten freundlich. Seit wann knallt ein Russe die Hacken zusammen? Was soll das, Brüderchen Oberst. Hier irrst du dich. Was geht uns deine deutsche Uniform an, ha?!
Renneberg trat hinter das Pult und schlug die blaue Mappe auf. Hansekamm, wie ein Musterschüler, trat mit dem Zeigestock an die riesige Moskaukarte heran.
»Meine Herren, ich habe Ihre Einsatzpläne fertig«, sagte Renneberg auf deutsch.
Sofort hob Petrowskij die Hand. »Nix verstehn!« rief er und wedelte mit der Hand. »Nix Sprache von Germanskij.«
»Pardon! Ich vergaß.« Renneberg lächelte säuerlich. Auf russisch sprach er weiter. »Wer aufgerufen wird, trete bitte an die Karte und zeige uns, wo der genannte Ort liegt. Ich nehme an, das geht blitzschnell, denn die Umgebung von Moskau muß in Ihrem Gehirn fotografiert sein!« Er nahm ein Blatt aus der blauen Mappe und hielt es näher an seine Augen. »Piotr Mironowitsch Sepkin …«
»Hier!« Oberleutnant Radek
Weitere Kostenlose Bücher