Sie waren zehn
verminderte Besatzung und das Fehlen der schweren Bomben machten das Flugzeug schnell und gestatteten ihm, in größere Höhen zu steigen. Reservetanks verliehen ihm zusätzlich größere Reichweite. Da auch der Heckschützenstand nicht besetzt war, hatte sich Bunurian dort einquartiert und versucht, etwas von dem Land zu sehen, das sie überflogen. Aber das war nicht möglich. Sie flogen über einer Wolkendecke, die ab und zu in Fetzen riß, aber doch keinen Blick auf die Erde freiließ. Das war gut so, denn die sowjetische Luftabwehr wurde dadurch machtlos. Ab und zu, vor allem während sie die Front überflogen, tasteten Scheinwerfer in den Himmel, aber die dicken Wolken warfen die Strahlen zurück wie eine weiße Mauer. Später, weit hinter der Front, kümmerte sich keiner mehr um das einsame Flugzeug, das man nur hörte. Was soll ein einzelnes deutsches Flugzeug mitten in der Nacht hinter Witebsk? Wird eins von unseren sein, dachten die Russen. Ein Transporter, dem Ton nach. Zweimotorig. Vielleicht ein General, der zu seinen Leuten fliegt.
Nicht anders dachten an neun Stellen rund um Moskau die Luftüberwacher, als über ihnen das Motorengeräusch zu hören war und schnell wieder verebbte. Ein Flugzeug allein – das kann kein Deutscher sein. Was sollten die Deutschen mit einem Flugzeug über Rußland! Auch wenn ihre Luftwaffe zerschlagen war – so arm waren sie nun doch wieder nicht, daß sie Angriffe mit nur einer Maschine flogen.
Ein Fehler war es, daß die Luftüberwachung nicht zentral geleitet wurde, denn sonst wäre es aufgefallen, daß über zehn Linien je ein unbekanntes Flugzeug sich Moskau näherte – ein Sternflug zum Herzen der Sowjetunion. Das konnte kein Zufall mehr sein. Aber da niemand sich darum kümmerte, setzten die einsamen Maschinen unbehelligt ihren Weg fort und erreichten gegen 2 Uhr nachts ihre Zielorte.
Bunurian war kurz vorher noch einmal nach vorn zum Piloten geklettert und hatte sich, den Fallschirm bereits umgeschnallt, in die enge Kabine gepreßt. »Ich habe keine Ahnung vom Fliegen«, sagte er laut gegen das Motorengedröhn. »Aber mir ist's ein Rätsel, wie ihr den Weg findet. Ihr seht doch nichts!«
»Alles Gefühl!« Der erste Pilot, ein junger Leutnant, grinste Bunurian breit an. »Das ist wie bei einer Frau: Auch wenn sie dir unbekannt ist, weißt du, wo sie ihre Brustwarzen hat.«
»Idiot!« Bunurian kletterte zurück in die Heckschützenkanzel und starrte in die Tiefe. Das Flugzeug legte sich auf die Seite, flog einen Bogen und verlor an Höhe. Es durchstieß die Wolkendecke. Aber auch jetzt konnte Bunurian noch nichts erkennen. Das Land unter ihm war schwarz, ein unendlicher Abgrund. Kein Lichtschimmer, kein Punkt, an dem sich der Blick festhalten konnte.
Wenn er jetzt springen müßte – er würde sich in einen grenzenlosen Raum hineinwerfen, ohne ein Gefühl für oben oder unten. Natürlich ist unten da, wohin die Füße zeigen, dachte er. Du hängst an einem Schirm und schwebst nach unten. Aber ein verdammtes Gefühl ist es dennoch, wenn du nicht siehst, wohin du treibst …
Der zweite Pilot, ein Feldwebel, tappte nach hinten und erschien in der Heckschützenkanzel. Bunurian stand in der Tür unterhalb des Sitzes. Er hatte seine russische Mütze tief in die Stirn gezogen und umklammerte den Haltegriff seitlich des Ausstiegs. Die Motoren liefen auf halber Tourenzahl, das Flugzeug senkte sich immer mehr in großen Kreisen.
»Wir sind da!« sagte der Feldwebel. »Unter dir liegt der Wald von Maximowo. Nördlich liegt die Kleinstadt Turginowo, da mußt du einen Bogen rum machen. Also nicht nach Norden! Wir setzen dich in der Nähe der Straße nach Wolokolamsk ab. Dort erreichst du die Bahnlinie nach Moskau.«
»Die Gegend kenne ich nun wieder besser als ihr eure Brustwarzen!« sagte Bunurian fröhlich. Der Druck der letzten Minuten baute sich ab. Erstaunt stellte er fest, daß er nicht die geringste Angst empfand, nur den fiebrigen Drang, endlich die Tür aufzureißen und sich kopfüber hinauszustürzen. Dann würde der Ruck kommen, das Herumreißen des Körpers, das Auspendeln. Und dann das Schweben – ein seltsam euphorischer Zustand; man wünscht sich, er möge nie enden. »Macht's gut, Jungs!«
»Viel Glück, Kumpel!« Der Feldwebel klopfte Bunurian auf die Schulter. »Wie heißt du denn?«
»Iwan Petrowitsch …«
»Blödsinn! – Soll ich irgend 'was bestellen?«
»An wen?«
»An deine Eltern, Mensch, an deine Frau, an ein Mädchen, was weiß ich?
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