Sie waren zehn
jetzt nicht große Worte an Sie richten. Wir haben uns gut genug kennengelernt, um auf Floskeln zu verzichten. Wir werden uns mit Bestimmtheit nicht wiedersehen. Ich wünsche Ihnen viel Glück bei Ihrer Aufgabe. Noch eins, meine Herren. Ich habe es bis zu dieser Minute aufgeschoben. Wenn Sie in Schwierigkeiten geraten und absolut keinen Ausweg mehr wissen, gibt es eine sekundenschnelle Erlösung von allen Problemen. Ich weiß, daß jeder von Ihnen diese Lösung einer unehrenhaften Kapitulation vorzieht.« Er klappte die Chromdose auf und trat zuerst an Sassonow heran. »Bitte, bewahren Sie diese Fluchtmöglichkeit an einer Stelle auf, wo sie Ihnen immer greifbar ist. Ich hoffe, daß keiner von Ihnen sie benutzen muß.«
Er griff in die Dose und hielt Sassonow eine kleine, durch einen weißen Überzug geschützte Kapsel hin. Mit unbewegtem Gesicht nahm Sassonow sie entgegen und steckte sie zunächst achtlos in die Rocktasche.
»Endlich!« sagte Boranow frostig. »Ich habe mich schon gewundert, wo sie bleibt. Gesehen habe ich solch eine Ampulle noch nie, aber ich weiß von einem Bekannten, daß bestimmte Personen sie mit sich herumtragen wie einen Talisman.«
Oberst von Renneberg ging zu Sepkin und gab ihm die Ampulle.
»Zyankali«, sagte er. »Es wirkt augenblicklich. Schmeckt penetrant nach Mandeln, aber dieser Geschmack ist schon das letzte, was Sie noch wahrnehmen. Sie werden keine Schmerzen haben.«
»Beruhigend!« sagte Petrowskij. »Eine meiner Lieblingsspeisen ist Vanillepudding mit Mandelsplittern.«
Renneberg überreichte jedem seine Giftkapsel. Der kleine Plejin ließ sie auf seiner Handfläche hin und her rollen und betrachtete sie mit geweiteten Augen.
»So schrumpfen wir zusammen«, sagte er tonlos. »Ein paar Tröpfchen – das ist alles. Das Leben ist doch beschissen …«
»Es haben schon bedeutendere Männer als wir Gift geschluckt.« Boranow hielt seine Ampulle zwischen Daumen und Zeigefinger, als betrachte er einen Edelstein. »Da war Sokrates, da war …«
»Es genügt, Kyrill Semjonowitsch, wenn ich es tun muß!« Kraskin steckte seine Ampulle provisorisch in eine Hemdentasche. »Das Vorbild Sokrates läßt mich nicht aufjauchzen.« Oberst von Renneberg griff nach seiner auf den Dielen stehenden Aktentasche. Es war fünf Minuten nach sechs Uhr morgens.
»Können wir?«
Die zehn sahen sich an. Dann gingen sie aufeinander zu, umarmten sich, küßten sich nach russischer Sitte auf beide Wangen und drückten den anderen an sich. Es war ein stummer, ergreifender Abschied. Sogar Petrowskij hielt seine große Schnauze und hatte plötzlich Augen wie eine leidende Kuh. Nur einer sagte einen Satz, der blonde Lockenkopf Iwanow: »Bis Moskau, meine Lieben!«
Bis Moskau …
Sassonow wartete ab, bis sich alle voneinander verabschiedet hatten. Er hatte ab sofort das Kommando.
»Alles bereit!« sagte er laut und hart.
Renneberg öffnete die Tür. Die Morgensonne flutete in den Vorraum. Die Luft, vom Tau gesättigt, roch frisch nach Gras und herber Erde. Auf dem Parkplatz von Block II standen nebeneinander, korrekt ausgerichtet, fünf geschlossene, graugrün lackierte Wagen. Zwei Adler, zwei DKW, ein großer Horch. Die Fahrer warteten daneben und knallten die Hacken zusammen, als sie Oberst von Renneberg sahen. In ihren Blicken lag Verwunderung. Zwei Offiziere und zehn Zivilisten. Aber was für welche! Zivilisten in schäbigen Kleidern. Gesichter wie Galgenvögel. Sie dachten an ihren Auftrag, an das Fahrtziel: Fliegerhorste. Was haben diese Zivilisten bei der Luftwaffe zu suchen? Vielleicht Bombenexperten, die eine neue Waffe ausprobierten? Seit Monaten sprach Goebbels von einer Wunderwaffe. Jungs, haltet die Luft an. Wir fahren da eine dicke geheime Sache …
Fünf Minuten später fuhren sie ab.
Wagen 1 mit Sepkin und Kraskin zum Flugplatz Fürstenfelde.
Wagen 2 mit Boranow und Petrowskij zum Flugplatz Frankfurt/Oder.
Wagen 3 mit Renneberg, Bunurian und Plejin zum Flugplatz Stettin.
Wagen 4 mit Hansekamm, Tarski und Iwanow zum Flugplatz Küstrin.
Wagen 5 mit Duskow und Sassonow zum Flugplatz Muskauer Heide.
Petrowskij rekelte sich auf dem zerschlissenen Polster des Adler-Wagens und tippte dem Fahrer auf die Schulter. Der Obergefreite zuckte zusammen. »Wat is'n?« fragte er laut. »Was hört man so im Land?«
Der Fahrer starrte auf die Straße. Achtung Holzauge! Der fragt wie einer von der Gestapo. Kann auch sein, das sind Kerle von der Gestapo, die nach der Meinung des Volkes schnüffeln.
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