Sie waren zehn
gesagt: Das ist ein Mensch, mit dem läßt sich's leben! Dieser Genosse hat Gefühl, man sieht's an seinen Augen. Er ist klug, seine Stirn verrät es. Er ist mutig, seine ganze Haltung drückt Kraft aus! Ein solcher Mensch sollte doch für zwei Rubel eine nahrhafte Mahlzeit besorgen können …«
Es war eine gute Idee gewesen, gerade bei Priwalzew Station zu machen, obwohl viel Mut dazu gehört hatte. Jeder andere in seiner Situation hätte die Öffentlichkeit gemieden – aber nein: Kraskin steigt wie ein harmloser Reisender in einem Hotel ab und trägt sich auch noch in das Gästebuch ein, das täglich von der Miliz kontrolliert wird!
Priwalzew brachte wirklich ein köstliches Essen zustande, und Kraskin verschlang es, als habe er bisher nur von getrockneten Rübenschnitzeln gelebt, die er in den Nähten seines fürchterlichen Anzugs mitgeschleppt hatte. Da war ein Hühnerschenkel mit Roten Rüben, und hinterher eine Schale mit dicker Milch und Dörrobst, und weil Kraskin so satt rülpste und, bis auf seinen Gestank, ein sehr sympathischer Mann war, wagte es Emil Benjaminowitsch, ihm zwei Gläschen von seinem selbstgebrannten Schnaps anzubieten.
Kraskin hustete nach dem ersten Schluck, verdrehte die Augen, sank tief in sich zusammen und schnellte dann hoch wie von einem Skorpion gebissen. »Oh!« schrie er. »Gut! Das ist gut! Gut! Emil Benjaminowitsch, wer hat den gebrannt? Der versteht etwas vom Handwerk! Oje … mir braust der Kopf. Gib noch einen her, Brüderchen …«
Sie soffen bis zum Abend, umarmten sich, küßten sich und nannten sich Du, als die Sonne versank. Sie sangen ein Lied ums andere, und Priwalzew stellte mit Verwunderung fest, daß man sich an den Gestank gewöhnen konnte, und bedauerte Alexander Nikolajewitsch, diesen netten Menschen, den der verdammte Krieg aus der Bahn geworfen hatte. Ohne Krieg wäre er heute bestimmt 1. Vorsitzender in der Zuckerrübenfabrik, hätte ein süßes Weibchen, vielleicht auch schon ein kleines Bübchen und könnte in einer Zweizimmerwohnung auf dem Fabrikgelände schlafen. So aber mußte er nach Moskau, in die große Stadt, vor der er Angst hatte.
Zu später Stunde weinte Kraskin, ließ sich von Priwalzew trösten und auf Zimmer Nummer 4 bringen. Kraskin warf sich auf das Bett, weinte weiter, nannte sich einen unglücklichen Menschen und verfiel dann in einen von Schluchzen durchschüttelten Schlaf. Priwalzew deckte ihn zu und verließ leise das Zimmer.
Kraskin wartete, bis Emil Benjaminowitsch wieder unten im Gastzimmer war, dann sprang er auf, verriegelte die Tür und setzte sich ans Fenster.
Ein wunderbarer Aussichtsplatz war das. Gegenüber lag der Bahnhof. Er konnte die ankommenden und abfahrenden Züge beobachten und frei hinüberblicken zum Güterbahnhof, wo man die Züge nach dem Süden oder nach Moskau zusammenstellte. Das war der Weg, den Kraskin nehmen wollte: Mit einem Güterwagen in aller Ruhe nach Moskau fahren, dort aussteigen und zu Milda Ifanowna in die Lesnaja uliza 19 pilgern.
»Ich bin schon da!« wollte er dann sagen, wie der Igel zum Hasen. »Wo sind die anderen?«
Kraskin war überzeugt, er werde der erste in Moskau sein. Alle Gelegenheiten sprachen dafür. Moskau lag gewissermaßen vor seiner Tür.
Er saß noch lange am Fenster, blickte auf den düsteren Bahnhof und freute sich, es geschafft zu haben. Dann hängte er seinen Anzug zum Auslüften an den Fensterriegel, kroch unter die mit einem geblümten Leinen überzogene Decke und schlief schnell ein. Emil Benjaminowitschs selbstgebrauter Schnaps bewirkte, daß er nach langer Zeit wieder träumte. Es war ein verdammt schöner, aber anstrengender Traum.
Er lag bei Milda Ifanowna im Bett, nackt und gespannt, und sie beugte sich über ihn, seine Lippen tasteten nach ihren Brustwarzen. Sein Körper glühte vor Verlangen, in den Lenden pulsierte das Blut, ihre Hand glitt mit kreisenden Bewegungen über seinen Unterleib …
Gegen Morgen traf auf dem Güterbahnhof Stupino ein Güterzug mit Kühen aus dem Süden ein. Er blieb auf dem Abstellgleis und fiel Kraskin sofort auf, als er am Fenster stand, um den neuen Tag zu begrüßen.
Ein Viehtransport, dachte er. Gibt es etwas, das sicherer wäre? Kühe kontrolliert man nicht. Kühe für die Mägen von Moskau haben freie Fahrt.
Er zog sich an, sein Anzug stank nicht mehr. Er stieg die Treppe hinunter zu Priwalzew.
Das Glück kann man sich nicht aussuchen; man muß die Dinge hinnehmen, wie sie eben kommen, und versuchen, sie so zu
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