Sie waren zehn
dressiert für eine ganz besondere Nummer in diesem Weltzirkus: Wir bringen Stalin um. Den großen Konkurrenten. Damit der Zirkus weiterlebt, der andere, in dessen Manege auch nur die Puppen tanzen nach den Flötentönen des großen Dompteurs.
Was mit den armen Hunden passiert? Vielleicht erschlägt man sie mit Knüppeln, ersäuft sie im Fluß, schießt ihnen ein Loch in den Kopf oder jagt sie einfach in die Weite, wo sie verwildern können und sich mit den Wölfen paaren dürfen, um dann erneut gejagt zu werden. Wen interessiert das? Hauptsache: die große Zirkusvorstellung geht weiter, und die Menschen klatschen Beifall.
Der Oberfeldwebel kroch zurück. Das Flugzeug drehte wieder ab, gewann an Höhe und summte ruhig unter dem Nachthimmel in Richtung Moskau. Die sowjetische Luftüberwachung kümmerte sich nicht um die einsame Maschine. Moskau und Umgebung war tiefste Etappe, fast schon ein Land des Friedens. Abgesehen von der reduzierten Ernährung und der enorm gesteigerten Rüstungsproduktion, lebte man hier schon der Zukunft entgegen. Stalin hatte es klar genug gesagt: Nach dem Krieg wird die Sowjetunion ein Goldenes Land werden! Unbesiegbar und reich, gesegnet mit unermeßlichen Bodenschätzen und einer Landwirtschaft, die uns vergessen läßt, was das Wort Hunger bedeutet. Bewohnt von einem Volk, dessen Tapferkeit die Geschichte der Menschheit überstrahlt. So wird Rußland sein! Es gab keinen Anlaß mehr, daran zu zweifeln. Die deutschen Armeen waren weit nach Westen zurückgedrängt. Die nächsten Tage würden beweisen, ob in einem gewaltigen, bisher nie erlebten Feuersturm nicht auch der ganze Krieg verbrannte und ein ewiger Frieden aus der Asche wuchs. Ganz Rußland war ein einziges Heerlager, zwischen Moskau und der Frontlinie ballte sich die Kraft eines ganzen Kontinents.
Kyrill Semjonowitsch hatte keine Ahnung, wie spät es war. Eine Uhr trug er nicht – wer besaß schon eine Armbanduhr in Rußland? Es gab öffentliche Uhren genug, in Türmen, an den Giebeln der Parteihäuser, in den Städten sogar an den Ecken der Hauptstraßen. Uhren, die man mit sich herumträgt, sind ein Luxus. Allenfalls eine Uhr im Zimmer, das läßt man sich gefallen, oder ein Wecker, damit man frühzeitig aufwacht und nicht zu dem Genossen Vorarbeiter sagen muß: »Mir ist das peinlich. Kaum liege ich im Bett, strecke mich aus und sage zu mir: Piotr, du mußt morgen früh um fünf Uhr aufstehen … da fallen mir die Augen zu, noch bevor ich mir die Zeit gemerkt habe. Wie eine Krankheit ist's! Verzeihen Sie, Genosse.«
Boranow lauschte auf das Summen des Motors. Es erinnerte ihn an das helle Brummen der Windmaschine auf Gut Thernauen. Mit diesem Geräusch war er aufgewachsen, hatte als Junge oft unter dem hochragenden Eisengestänge im Gras gelegen und beobachtet, wie der Wind die silbern glänzenden Flügel antrieb. Erst zaghaft, dann immer schneller, so wie die Wolken am Himmel über ihn hinwegjagten. Dann sah er keine Flügel mehr, sondern einen silbernen, summenden Kreis, und in einem Holzhäuschen neben dem Windrad mahlten und knirschten Zahnräder und rumpelte ein Motor.
Kyrill Semjonowitsch schrak hoch. Er hatte die Stirn gegen die Flugzeugwand gepreßt, die Augen geschlossen – ihm war kaum mehr bewußt, daß er dreitausend Meter über russischen Wäldern schwebte. Jemand tippte ihm auf die Schulter, der Ko-Pilot: »Unter uns ist Plesenskoje.«
»Auch Militärkolonnen?«
»Nein. Alles dunkel.«
»Siehst du das Rübenfeld?«
»Aber genau!« Der Oberfeldwebel grinste. »In jeder Reihe 432 Rüben, wenn ich mich nicht verzählt habe.«
»Blöder Hund!« Boranow kontrollierte zum letztenmal den Sitz der Fallschirmgurte. Ihm war dieser Sack auf seinem Rücken, der über Leben und Tod entschied, immer unheimlich geblieben. Daß er ihn auch noch selber gefaltet hatte, wenn auch unter Anleitung des jungen Fallschirmjägerleutnants, stärkte durchaus nicht sein Vertrauen. Nur eine einzige Schnur verheddert, dachte er, und du wirst in das Feld hineingeschleudert wie ein weicher Sack. Ob ein Mensch zerplatzt, wenn er aus solcher Höhe aufschlägt?
»Wir gehen jetzt auf Sprunghöhe«, sagte der Oberfeldwebel. »Wenn wir dein Rübenfeld sehen, wackeln wir kurz. Dann 'raus!« Er klopfte Boranow auf die Schulter. »Wird schon klappen. Ich stehe ja hinter dir …« Er räusperte sich und brachte die Frage vor, die ihn während des langen Fluges nicht losgelassen hatte: »Wie heißt du eigentlich?«
»Adieu.«
»Noch nicht.
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