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Sieben auf einen Streich

Sieben auf einen Streich

Titel: Sieben auf einen Streich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amei Müller
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Geschwistern irgendein
Mensch zu nahe, dann wirkte bereits der Spruch: »Ich sag’s meinem großen
Bruder!« wahre Wunder. Ließ sich jedoch ein Angreifer durch diese Zauberformel
nicht vertreiben, dann eilte auf unser gellendes Geschrei Michael herzu, den
Kopf bullig vorgeschoben, die Fäuste erhoben, so daß sie alle unter lautem
Angstgeschrei flohen und fürderhin Respekt vor uns hatten. Nun aber wurde ihm
nicht der geringste Respekt zuteil. Da stand er, fünfundzwanzig Jahre älter und
mindestens ebenso viele Kilo schwerer im tropfenden Wald und hatte Ärger mit
seinen widerspenstigen Geschwistern.
    »Also gut, Leute, wenn ihr nur einen
kleinen Spaziergang machen wollt, dann gehen wir am besten hier entlang.« Sein
Finger fuhr über die Karte. Die Augen der Herren verfolgten ihn mißtrauisch.
    »Wenn du diesen Weg meinst«, Manfreds
dünner Finger zielte auf Michaels dicken, »dann wird das wohl nicht möglich
sein, denn es ist verboten auf der Autobahn zu wandern, und dieses ist die
Autobahn.«
    »Du irrst, Schwager. Vielleicht kennst
du dich in deinen schwäbischen Wäldern aus, aber vom Harz hast du keine Ahnung.
Vera!« Er wandte sich seinem Eheweib zu: »Vera, sind wir diesen Weg schon
gegangen oder nicht?«
    »Woher soll ich das wissen, Micha?
Meine Brille liegt im Auto. Aber eines kann ich dir sagen, die Gegend kommt mir
bekannt vor. Die Bäume, die Steine, das Moos...«
    »Mir kommt es auch bekannt vor.« Wenn
Christoph Gelegenheit hatte, eine freche Bemerkung zu machen, dann ergriff er
sie bestimmt. »Bäume und Moos pflegen im Wald zu wachsen, und Steine liegen in
manchen Teilen der Welt herum. Ich schlage vor, wir laufen einfach los. Mit
dieser ausgezeichneten Karte und Michael als begnadetem und ortskundigem Führer
kann uns überhaupt nichts passieren. Auf geht’s, Leute!«
    So trottete die Familie durch den Wald.
Die Kinder kreischend voraus, die Beatles kreischend hinterher. Bei jeder
Weggabelung berieten die Herren, und Michael versicherte, er überblicke die
Situation und wisse genau, an welcher Stelle wir uns befänden.
    Aber die Stimmung wurde immer
gereizter, und also griff ich zu einer Notlösung: »Ein Lied, zwo, drei, vier!«
    Beate sah mich von der Seite an.
    »Ich denk’, ich hör’ nicht recht!«
    Stefan stimmte an: »Ein Heller und ein
Bahatzen, die waren beide mein ja mein...«
    Michael vorne beschleunigte seinen
Schritt. Beate und ich aber fielen hinten zurück. Er vorne und wir hinten
versuchten, eine möglichst weite Wegstrecke zwischen uns und den singenden
Trupp zu bringen.
     
    Nach der Flucht geschah es, daß unser
Vater Zeit hatte für seine Familie. Er las abends vor, er ging mit uns spazieren.
Ich genoß das Vorlesen und ich verabscheute die abendlichen Spaziergänge. Meist
marschierten wir zum Dorf hinaus, hinauf zum Waldrand, saßen dort ein Weilchen
und begaben uns wieder auf den Rückweg. Damit begann das Martyrium, denn auf
dem Rückweg pflegte Vater seine Stimme zu erheben und zu singen, und nicht nur
dies, nein, er forderte uns auf, miteinzustimmen. Er hatte einen schönen Tenor,
und seine Stimme, geschult durch jahrzehntelanges Training an Kirchenliedern,
besaß ein ungeheures Volumen. Die drei Kleinen — Gitti, Christoph und Stefan —
fielen krähend ein, wir drei Großen jedoch sangen mit äußerstem Widerwillen. Je
näher wir dem Dorf kamen, desto weniger Ton drang aus unseren zusammengepreßten
Lippen. Die Eltern schoben gemeinsam den alten Kinderwagen, dessen Räder mit
Fränzchen um die Wette kreischten. Mutti jubilierte in höchsten Tönen, denn
wenn Paul-Gerhard glücklich war, dann war sie es auch, und jetzt gerade war er
glücklich im Kreis seiner durch die Kriegswirren hindurch geretteten, höchst
lebendigen Familie. Ab und zu warf sie einen zornig-anfeuernden Blick zu uns
nach hinten, die wir das allgemeine Glück nicht teilten und Gott durch unser
Lied nicht loben wollten, besonders nicht auf der Dorfstraße, durch die wir
Spießruten liefen.
    Da lagen sie in den Fenstern, da
lehnten sie in den Türen, da saßen sie auf Bänken und strömten von überall
herbei, um ihre singende Pfarrfamilie zu bewundern. Sie klatschten Beifall und
lächelten freundlich, mir aber, in meinem schwierigen fünfzehnten Jahr,
trieften ihre Mienen von eitel Hohn und Spott, und ich nahm mir vor, ihnen am
Sonntag ein so langes Präludium vorzuorgeln, daß ihnen das Lachen vergehen und
ihre Mienen erstarren sollten. Den sonst geliebten Rücken meines Vaters
bedachte ich mit

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