Sieben in einem Auto
wurde beim Anblick der vielen Blumen wieder munter. „Höh!“ rief sie. „Ist das eine Pracht, was? Ruht euch nur aus, ich werde mir einen Strauß pflücken.“
Auf dem Plateau wuchsen nicht nur rosarote Alpenrosen, weißblühende Felsenbirnen, leuchtendgelbes Goldfingerkraut und die blaue Berg-Flockenblume, sondern auch so unscheinbare Blumen wie die Kleinen Alpenglöckchen oder so auffallende wie die Teufelskralle.
Conny war nicht zu halten. Alle Unlust und die Müdigkeit waren angesichts dieser bunten Palette verschwunden. Sie ließ ihr Malerauge schweifen und wählte aus dem reichhaltigen Angebot nur das Schönste aus. In einer Viertelstunde hatte sie einen hübschen Strauß gewunden, band ihn mit Gräsern zusammen und begann sofort, einen zweiten zu pflücken.
Auch Stefan, nachdem ihm zum drittenmal die Windeln gewechselt worden waren und Frau Heger ihn mit feuchtem Moos und Gras notdürftig gereinigt hatte, drehte den Stengel einer Alpenrose zwischen den Fingern und probierte hin und wieder, ob die Blüten nicht eßbar waren. Aber der Rest der lauwarmen Milch aus der Thermosflasche schmeckte ihm doch besser.
Herr Heger lag zwischen hohen Kräutern. Er war müde, und die Füße taten ihm weh. Seine Frau mochte auch noch nicht aufbrechen. Die beiden jungen Bergführer indessen waren unruhig.
„Auf geht’s!“ verlangte Alois. „Mir san no lang net do! Wollt’s etwa hier über dr Nacht bleibn? ‘s ist eh schon spät!“ Es war gegen sechs Uhr abends. Man mußte sich in der Tat aufraffen, wenn man die Nacht nicht im Freien verbringen wollte. Aber die Füße waren schwer, geradeso, als hätte man Bleiplatten unter den Sohlen! Stefan war gottlob wieder bereit, sich tragen zu lassen, und Jan, der so lange auf dem Rücken seines Vaters gesessen hatte, ausgeruht genug, wieder selbst zu laufen. So traten sie langsam, sehr langsam, den Weitermarsch an.
Die Region der kalten Felsen war überwunden, der Weg zwischen Latschenkiefern und niedrigem Buschwerk ungefährlich. Dennoch fiel ihnen jeder Schritt schwer.
Gegen sieben stießen sie auf eine Schotterstraße, die auch für Autos befahrbar war.
„So“, rief Frau Heger, indem sie auf eine Bank zuhumpelte, „hier bleibe ich! Keine zehn Pferde können mich dazu bewegen, nur noch einen Schritt weiterzugehen!“ Kraftlos ließ sie sich auf die Bank sinken, stützte die Ellbogen auf die Knie und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Ihr Mann sank neben ihr nieder.
Da quälte sich ein blaues Auto den Berg hinauf: der Wagen von Dr. Brewer.
„Schaut’s!“ rief Alois. „Der Vater kommt uns zu holen.“ Frau Heger hob den Kopf.
„Wirklich?“ stammelte sie. „Den schickt der Himmel!“ Und mit letzter Kraft erhob sie sich und taumelte auf das Auto zu.
„Guten Abend“, hauchte sie, „vielen Dank fürs Holen. Wir sind am Ende.“
Als sich alle in den Wagen gezwängt hatten, konnten sie kaum noch atmen, aber das ertrugen sie. Nur nicht mehr laufen müssen, das allein zählte!
Frau Brewer hatte ein Gulasch gemacht und lud die Hegers dazu ein.
„Sie sind lange ausgeblieben“, sagte sie. „Da hab ich mir gedacht, schick ihnen den Mann mit dem Auto entgegen und mach ihnen ein Abendmahl. Ein langer Marsch macht hungrig und müde.“
„Oh ja“, antwortete Frau Heger, „sehr hungrig und sehr, sehr müde!“
Am nächsten Tag blieben sie lange im Bett und ruhten sich aus von den Strapazen ihrer ersten Bergwanderung.
Frau Heger las Geschichten von Karl Heinrich Waggerl, Herr Heger, mit Jan an seiner Seite, löste ein Kreuzworträtsel. Christine, ebenfalls im Schlafzimmer ihrer Eltern, spielte mit Stefan. Sie ließ ihn auf ihrem Rücken reiten, rollte ihn auf dem Fußboden herum und probierte aus, ob er inzwischen den Kopfstand gelernt hätte.
Sascha las auch. Er hatte das Deckbett zusammengerollt und die geschundenen Füße daraufgelegt. In dieser Hochlage, so glaubte er, würden sie am ehesten genesen.
Conny aber war nicht in der Familienrunde. Sie lag in ihrem winzigen Dachzimmerchen bäuchlings auf ihrem Bett und schrieb. Der größere der beiden bunten Alpenblumensträuße stand in einem Einweckglas neben ihr auf dem Fußboden.
Liebe Geraldine!
Einmal und nie wieder! möchte ich ausrufen. Ich spreche von dem „Spaziergang“ auf der Nordkette. Also, das war der Gipfel in des Wortes doppelter Bedeutung: Schleppen uns diese Bergunmenschen doch neun Stunden an gähnenden Abgründen vorbei, wo alle hundert Schritt einer über Bord gegangen
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