Sieben Jahre später
ein dumpfer, anhaltender Schmerz lähmte seinen Nacken und vermittelte ihm das Gefühl, sein Hinterkopf sei in einen Schraubstock eingespannt.
Er massierte seine Schläfen, um den Schmerz zu mildern. Er suchte in dem Durcheinander und Chaos, die in seinem Gehirn herrschten, nach einem Sinn für diese absurde Situation.
Auf welche Gefahren flogen sie zu? Gegen welchen Gegner kämpften sie? Warum hatte man es auf Jeremy abgesehen? Warum war er, Sebastian, so verrückt gewesen, nicht die Hilfe der Polizei in Anspruch zu nehmen? Wie konnte diese ganze Geschichte anders als im Gefängnis enden?
Die letzten zwölf Stunden waren die schwersten seines Lebens gewesen. Und auch die überraschendsten. Er, der stets alles bis ins letzte Detail geplant, gegen alles Unvorhergesehene angekämpft hatte und bemüht gewesen war, seine Existenz in sicheren Bahnen zu halten, war jetzt komplett dem Unbekannten ausgeliefert.
Heute Nachmittag hatte er eine aufgeschlitzte Leiche entdeckt, sich in einem Meer von Blut geprügelt und schließlich einem Koloss, der doppelt so groß war wie er selbst, die Kehle durchgeschnitten. Und heute Abend flog er mit einer Frau nach Europa, die er eigentlich für immer aus seinem Leben hatte streichen wollen.
Er zog seine Schuhe aus und schloss die Augen, war aber zu aufgewühlt, um einschlafen zu können. In seinem Kopf überschlugen sich die Bilder des Gemetzels und prallten mit denen des Videos von dem Angriff auf Jeremy aufeinander. Dennoch bemächtigte sich seiner, ausgelöst durch die Müdigkeit und das Dröhnen des Flugzeugs, nach und nach eine Mattigkeit, die seine Sinne lähmte. Der Versuch, zu verstehen, was sich an diesem Tag zugetragen hatte, führte ihn zurück zu jenem Tag, an dem er Nikki zum ersten Mal begegnet war.
Ein rein zufälliges Zusammentreffen …
Das war vor siebzehn Jahren gewesen.
An einem 24. Dezember.
In New York.
Wenige Stunden vor dem Heiligen Abend …
Sebastian
siebzehn Jahre früher …
Warum habe ich mich nicht eher gekümmert?
Macy’s nimmt den ganzen Häuserblock vom Broadway bis zur Seventh Avenue ein. Und an diesem 24. Dezember herrscht Hochbetrieb im »größten Kaufhaus der Welt«. Der Schnee, der seit dem Nachmittag in dichten Flocken fällt, hat weder die New Yorker noch die Touristen davon abhalten können, hier ihre letzten Weihnachtseinkäufe zu tätigen. Vor dem Christbaum in der riesigen Eingangshalle singt ein Chor Weihnachtslieder, während sich Kunden und Schaulustige auf den Rolltreppen drängen, bevor sie sich über die zehn Stockwerke dieser ehrwürdigen Institution verteilen. Kleidung, Parfümerieartikel, Uhren, Schmuck, Bücher, Spielzeug – in diesem Konsumtempel gibt es für jeden etwas.
Was habe ich hier verloren?
Ein aufgeregtes Kind rempelt mich an, eine Großmutter tritt mir auf den Fuß, von der Menschenmenge wird mir ganz schwindlig. Ich hätte mich nicht auf dieses feindliche Terrain begeben dürfen. Am liebsten würde ich umkehren, aber ich kann mir nicht vorstellen, am Heiligen Abend im Kreise der Familie ohne ein Geschenk für meine Mutter dazustehen. Ich zögere. Vielleicht ein Seidentuch? Aber habe ich ihr nicht erst letztes Jahr eines geschenkt? Eine Handtasche? Viel zu teuer. Also ein Parfüm? Aber welche Marke?
Bei meinem Vater ist das einfacher. Wir haben stillschweigend ein bequemes Abkommen geschlossen: In den geraden Jahren schenke ich ihm eine Kiste Zigarren, in den ungeraden eine Flasche Cognac.
Ich seufze und sehe mich inmitten all dieser zielstrebigen Menschen ein wenig verloren um. Ich unterdrücke einen Fluch: Eine ungeschickte Verkäuferin hat mich mit einem Damenduft angesprüht! Diesmal ist meine Toleranzschwelle überschritten. Ich greife nach dem erstbesten Parfümflakon und gehe zur nächsten Kasse.
In der Warteschlange wische ich mein Gesicht ab und verfluche die Angestellte, der ich es zu verdanken habe, dass ich jetzt wie eine Tunte stinke.
»Dreiundfünfzig Dollar, der Herr.«
Als ich zum Zahlen mein Portemonnaie herausziehe, geht eine schlanke Gestalt wenige Meter an mir vorbei. Ein hübsches Mädchen, das sich anschickt, die Parfümerieabteilung zu verlassen. In ihrem lässigen Wollcape wirkt sie sehr feminin und sexy: graue Mütze, kurzer, hautenger Rock, hohe Absatzstiefel, modische Handtasche.
»Hallo?«
Während ich in der Jackentasche nach meiner Brille suche, holt mich die Kassiererin in die Realität zurück. Ich reiche ihr meine Kreditkarte, ohne die schöne Unbekannte aus den
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