Sieben Jahre später
waren, um Kastanien zu sammeln: die Spaziergänge an der frischen Luft, das Knacken der Schale, wenn man sie einritzte, die Glut im Kamin, das metallische Klirren der Maronenpfanne, der köstliche Geruch, der den Raum erfüllte, die fleckigen Finger, die prickelnde Angst, sich beim Schälen der gerösteten Früchte zu verbrennen …
»Habt ihr etwas von Jeremy gehört?«
Camilles Frage brachte ihn in die Gegenwart zurück.
»Wir werden ihn finden, Liebes, mach dir keine Sorgen.«
»Ist Mama bei dir?«
»Ja, ich gebe sie dir.«
Sebastian reichte seiner Exfrau das Telefon und lief durch den Mittelgang des Airbusses. An ihren Plätzen angekommen, verstaute er die Koffer in den Gepäckfächern und setzte sich.
»Vergiss nicht, uns Bescheid zu geben, wenn sich dein Bruder bei dir meldet«, erinnerte Nikki ihre Tochter.
»Aber wo seid ihr denn?«, wollte Camille wissen.
»Ähm … in einem Flugzeug«, stammelte sie.
»Alle beide? Wohin wollt ihr denn?«
Hektisch und überstürzt beendete Nikki das Gespräch. »Ich muss aufhören, mein Schatz. Wir starten gleich. Ich hab dich lieb.«
»Aber Mama …?«
Nikki legte auf, gab ihrem Exmann das Handy zurück und nahm ihren Platz am Fenster ein.
Sebastian sah, wie sie sich in den Sitz drückte und an den Lehnen festklammerte. Schon zu Beginn ihrer Beziehung hatte sie unter Flugangst gelitten, woran sich ganz offensichtlich nichts geändert hatte.
Angespannt und misstrauisch beobachtete Nikki die Stewardessen und die anderen Mitreisenden sowie das Treiben draußen rund um das Flugzeug. Beim geringsten ungewöhnlichen Geräusch ging ihre Phantasie mit ihr durch, und sie malte sich ein Katastrophenszenario nach dem anderen aus.
Sebastian versuchte, sie zu beruhigen. »Das Flugzeug ist das sicherste Transportmittel …«
»Erspare mir dieses Gerede«, unterbrach sie ihn schroff und kauerte sich in ihrem Sitz zusammen.
Sie seufzte und schloss die Augen. Die Müdigkeit, der Stress, die Angst um ihren Sohn und alles, was sie in den letzten Stunden erlebt hatten, lasteten auf ihr. Sie hätte jetzt zwanzig Kilometer joggen oder auf einen Sandsack einschlagen müssen, statt mit einer ihrer schlimmsten Ängste konfrontiert zu sein.
Sie atmete stoßweise, die Kehle war trocken. Natürlich hatte sie keine Zeit gehabt, ein Beruhigungsmittel einzupacken. Um sich von der Realität abzuschotten, setzte sie den Kopfhörer von Jeremys iPod auf, ließ sich von der Musik tragen und fand nach und nach ihren normalen Atemrhythmus wieder.
Als sie sich gerade zu entspannen begann, bat die Stewardess sie, das Gerät auszuschalten.
Widerwillig gehorchte Nikki. Der gigantische Airbus 380 erreichte den Anfang der Startbahn und legte eine kurze Pause ein, ehe er das Tempo beschleunigte.
»Cabin crew prepare for take-off«, verkündete der Flugkapitän.
Die Maschine jagte über den Asphalt, der zu beben schien.
Nikki, die wieder die Augen geschlossen hatte, war der Ohnmacht nahe.
Sie hatte nie begriffen, wie ein Koloss von fünfhundert Tonnen zum Fliegen gebracht werden konnte. Sie litt zwar nicht unter Klaustrophobie, ertrug es aber nicht, sechs oder sieben Stunden auf einem Sitz festgeschnallt zu sein, ohne sich bewegen zu können. Dieses Unbehagen konnte schnell in ein Angstgefühl oder gar in Panik umschlagen.
Außerdem hatte sie, sobald sie in ein Flugzeug stieg, das Gefühl, jegliche Freiheit aufzugeben und die Situation nicht mehr kontrollieren zu können. Da sie gelernt hatte, im Leben nur auf sich selbst zu zählen, ertrug sie es nicht, sich einem unbekannten und noch dazu für sie nicht sichtbaren Piloten auszuliefern.
Am Ende der Startbahn hob die schwere Maschine vom Boden ab. Nervös und nach Luft ringend, rutschte Nikki auf ihrem Sitz hin und her, bis das Flugzeug eine Höhe von fünfzehntausend Fuß erreicht hatte. Sobald es erlaubt war, schaltete sie den MP3-Player wieder ein und kuschelte sich unter eine Decke. Zehn Minuten später schlummerte sie wider Erwarten tief und fest.
Sobald Sebastian sicher war, dass Nikki schlief, schaltete er die Leselampe aus, zog die Decke über ihre Schultern und drehte die Lüftung herunter, damit sie sich nicht erkältete.
Ohne es zu wollen, betrachtete er die Schlafende eine Weile. Sie schien so zerbrechlich, und doch hatte sie am Nachmittag tapfer ihrer beider Leben verteidigt. Ein Steward bot ihm etwas zu trinken an. Er kippte seinen Wodka in einem Zug hinunter und bestellte einen zweiten. Seine Augen brannten vor Müdigkeit,
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