Sieben Leben
Zuschauerhorizont hatte. Quasi ein persönliches Spektrum,
in dem er sich sicher bewegen konnte.
Es fing an mit der intimen Runde am Besprechungstisch. Limit
etwa zwanzig Leute. Da ging es um Blickkontakt, den Einzelnen adressieren, die Hierarchien
in der Gruppe erkennen. Reden und reden lassen. Keine langen Monologe, sondern
geschickte Moderation des Gesprächsflusses.
Sowie der Tisch entfiel, galten andere Spielregeln. Die
Teilnehmer wurden zum Publikum und saßen nicht mehr neben, sondern vor Dir. Man
konnte den Konferenztisch aus dem Effeff beherrschen, aber auf einem Podium
plötzlich das große Flattern kriegen. Ein neuer Horizont eben. Da starrten sie dich frontal an und wollten unterhalten werden,
ohne selbst arbeiten zu müssen. Satzbau umstellen, Körpersprache anpassen, die
Stimme arbeiten lassen. Was bei Tisch offen und spontan wirkte, war plötzlich
Ausdruck unerfahrener Hilflosigkeit, wenn man nicht höllisch aufpaßte.
Der nächste Horizont kam mit der Saaltechnik. Das Limit lag jetzt
bei hundert oder mehr Zuhörern. Man brauchte Licht und Mikrofon. Rednerpult.
Multimedia-Technik. Das konnte eine ganz neue Erfahrung für einen Redner sein,
selbst wenn er sich auf einem Podium eigentlich zuhause fühlte. Gerade der
Umgang mit dem Mikrofon erforderte eine Menge Übung.
Dann die Königsdisziplin: Massenveranstaltungen. Tausend
Leute oder mehr, anonym und gesichtslos. Jetzt wurde es richtig professionell.
Fernsehkameras, damit dich auch die Leute aus der letzten Reihe auf der
Großleinwand verfolgen konnten. Make-Up und Schweißausbrüche, das gleißende
Licht der Scheinwerfer und die aberwitzig übertriebenen Mund- und Handbewegungen,
die notwendig waren, um noch Emotionen transportieren zu können.
Ich selbst hatte auf meinen Touren mittlerweile in allen
Ligen gespielt. Deshalb wußte ich, dass mein Ding die mittlere Kategorie war. Mein
persönlicher Rednerhorizont war der klassische Konferenzsaal. In den großen
Hallen machte ich keine so glückliche Figur. Aber ein Raum wie der Rheinsaal,
das war ein Heimspiel für mich. Deswegen war ich auch nicht nervös. Wenn
überhaupt, eher ein bißchen müde. Immer wieder das gleiche Spiel, immer auf
Achse. Ich machte das jetzt schon so lange. War das der Sinn des Lebens? Am
Ende doch Hotelbestattung, wenn auch mit fünf Sternen?
Mir wurde bewußt, dass Amira von alledem nichts wissen
konnte. Vielleicht redeten wir zu wenig miteinander. Aber unsere Beziehung
hatte ohne Frage ihre Qualitäten. Auch wenn Philosopieren über das Leben nicht
dazu gehörte. Der Geruch von frischen Lebkuchen kam mir wieder in die Nase.
„Hey, jetzt muß ich aber tatsächlich los. Ich sitze schließlich
bei der Eröffnung mit auf dem Podium. Wäre doch schade, wenn die ohne mich
loslegen?“.
"Nicht auszudenken", unkte Amira. "Ich
wünsche Dir viel Spaß!". So wie sie es sagte, klang es, als hätte die
Sache eine sinnliche Komponente. Hatte sie aber nicht. Das war einfach mein
Job.
Ich machte mich auf die Socken. Mit dem Fahrstuhl ging es
direkt in den Kongreßbereich. Ich frühstückte morgens bloß eine Tasse Kaffee. Das
war auch ein Grund, warum Amira nicht extra aufgestanden war. Hätte sich kaum gelohnt
für sie.
Vor dem Rheinsaal war ziemlich Betrieb. Ich schnappte mir
einen Kaffee, und hielt Ausschau nach der Referentenbetreuung.
Ich vertrat heute den Textilbereich unserer Firma. High-Tech
Klamotten. Das war spannender, als es sich im ersten Moment anhörte.
Die Kleidung von morgen wird nicht mehr nur dazu dienen, uns
vor Wind und Wetter zu schützen und uns dabei halbwegs gut aussehen zu lassen.
Schweißgeruch absorbieren, Bodylotion ersetzen, Allergien
bekämpfen, die Bandscheiben massieren und gleichzeitig den zunehmenden
Elektrosmog von uns fernhalten. Das waren nur einige der Dinge, die wir von
unserer Kleidung in Zukunft erwarten durften. Ohne die Hauptfunktion aus den
Augen zu verlieren, die zweifelsohne weiterhin darin bestehen würde, uns gut
aussehen zu lassen.
Wir waren sehr aktiv im Textilfaser-Engineering und mischten
bei mehreren Forschungsprojekten mit. Gute Erfolge hatten wir mit Silber
erzielt. Silber pur, Silber im Kupfermantel, Silber mit Teflonbeschichtung.
Mittlerweile gab es eine ganze Reihe von Firmen auf dem
Markt, die entsprechende Angebote im Programm hatten. Ein T-Shirt mit
20%-Silberanteil war mit 130 Euro in der gut sortierten Boutique zwar kein
Schnäppchen, aber für Neurodermitiker eine Möglichkeit, sich Linderung von
ihrem
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