Sieben Siegel 09 - Tor zwischen den Welten
konnte, sagte die Frau plötzlich: »Ich bin deine Mutter, Kyra.«
Schweigen.
Das war alles, was Kyra zu Stande brachte.
Langes, tiefes Schweigen.
Dea sprach jetzt schnell, beinahe atemlos.
»Ich weiß, was in dir vorgeht. Du fragst dich, warum ich nicht früher aufgetaucht bin und warum alle dir erzählt haben, dass ich –«
»Dea«, unterbrach Kyra sie, »oder … Mutter …«
Und damit fiel sie der Frau, der Hexe, ihrer Mutter um den Hals und drückte sie mit aller Kraft an sich.
Sie hatte es geahnt, verdammt noch mal, die ganze Zeit über hatte sie es geahnt, nein, gewusst.
Minutenlang sagte keine der beiden ein Wort, hielten einander nur in den Armen, und alles war so, wie Kyra es sich immer gewünscht hatte. Schon als kleines Kind hatte sie sich ausgemalt, ihre Mutter irgendwann wieder zu sehen, und in ihrer Fantasie hatte sie sich die verrücktesten Umstände ausgemalt, unter denen diese Begegnung stattfinden sollte. Damals war sie der Überzeugung gewesen, dass ihre Mutter tot war – es hatte nie einen Grund gegeben, daran zu zweifeln –, aber insgeheim, ganz tief in ihrem Inneren, hatte sie sich trotzdem vorgestellt, wie es wohl wäre, von ihr im Arm gehalten zu werden. Alles Mögliche hatte sie sich ausgedacht, irrwitzige Berufe, die ihre Mutter in die Fremde verschlagen haben könnten, von wo aus sie zurückkehren würde. Aber dass sie eine Hexe sein könnte, noch dazu eine, die behauptete, tausend Jahre alt zu sein, damit hatte sie nicht gerechnet. Natürlich nicht. Nicht einmal in ihren wildesten Träumen.
Als sie sich schließlich voneinander lösten, sprudelte eine Unzahl von Fragen über Kyras Lippen, mehr als Dea in einer solchen Situation – gefangen im Hexenmuseum, belagert von Morganas Wassergeistern – je hätte beantworten können.
Wie hatte Dea den Professor kennen gelernt? Was hatte sie in all den Jahrhunderten erlebt? Warum waren die Sieben Siegel auf Kyra übergegangen, wenn Dea noch lebte? Und, überhaupt, wie kam es, dass alle sie für tot hielten, sogar Tante Kassandra und Kyras Vater?
Zumindest auf die letzte Frage hatte Dea eine überzeugende Antwort parat: »Als ich Morgana in die Anderswelt folgte, um sie dort zu bekämpfen, bin ich für diese Welt gestorben. Verstehst du, Kyra? Ich bin mit Haut und Haaren ins Totenreich übergewechselt, und das bedeutete für jeden gewöhnlichen Menschen, dass ich tatsächlich tot war. Das war kurz nach deiner Geburt. Ich hatte Morgana schon viel früher folgen wollen, aber damals wurde ich schwanger, und es war zu gefährlich, ein ungeborenes Kind mit in die Anderswelt zu nehmen. Ich schrieb vorher einen Brief an deinen Vater, und ich bat ihn, Kassandra alles zu erzählen. Ich meine, ich selbst habe es ja nicht für möglich gehalten, je aus der Anderswelt zurückzukehren. Aber dort drüben ist vieles passiert, Schreckliches, aber auch Schönes – vielleicht erzähle ich dir eines Tages davon –, und jetzt endlich bot sich mir die Möglichkeit, noch einmal überzuwechseln, zurück in die Welt der Sterblichen.« Sie lächelte bedrückt. »Und hier bin ich nun und bitte meine Tochter, die so viel mehr von mir geerbt hat, als sie für möglich hält, um Hilfe.«
»Aber … aber wie könnte ich schon helfen?«
Kyra war schwindelig. Sie wollte hören, welche Abenteuer ihre Mutter in der Anderswelt bestanden hatte, sie wollte jede Einzelheit erfahren. Und sie wollte ihre Mutter nie wieder hergeben, so viel stand fest.
»Du trägst die magische Macht einer Hexe in dir, Kyra. Ich allein bin nicht stark genug, Morgana zu besiegen. Aber wir beide gemeinsam können es mit ihr aufnehmen. Und sie weiß das ganz genau.«
»Aber wie?«
Dea atmete tief durch, und Kyra ahnte schon, was sie sagen würde. »Du musst mit mir in die Anderswelt gehen. Noch heute Nacht. Dort steht alles bereit für die letzte große Schlacht gegen Morgana.«
»Aber ich kann nicht zaubern«, entgegnete Kyra verwirrt. »Ich meine, selbst wenn die Macht dazu wirklich in mir stecken würde, weiß ich nicht, wie ich sie anwenden soll.«
»In der Anderswelt wirst du es wissen. Dort drüben geschehen die Dinge auf andere Weise als hier. Die Anderswelt ist von Magie durchdrungen, ja, sie ist selbst Magie, und wen immer sie als Träger der Zauberkraft erkennt, dem gewährt sie die Chance, sie zu nutzen. Glaub mir, dort drüben sind magische Duelle an der Tagesordnung. Seit der Zeit der alten Kelten hat sich dort nicht viel verändert. Zauberer und Elfen und Trolle und
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