Sieg der Herzen
hinteren Treppe.
Olivia stand wie erstarrt da, den Blick auf die Stelle gerichtet, an der er gestanden hatte, und verbrannte sich fast an der Teekanne.
June McCaffrey saß im Nachthemd und mit offenem Haar auf der Kante des Bettes, das sie so viele Jahre mit Jacob geteilt hatte. Die mit Silber verzierte Haarbürste hielt sie selbstvergessen in einer Hand, während sie in die Ferne starrte. In die Vergangenheit.
Immer wieder musste sie an diesen Fremden denken. Als er an diesem Nachmittag über die Türschwelle in Miss Olivias Esszimmer getreten war, hatte ihr der Atem gestockt, und ihr Herz hatte so heftig zu schlagen begonnen, dass sie einen Moment befürchtet hatte, in Ohnmacht zu fallen.
Es konnte nicht sein. Es konnte einfach nicht wahr sein.
Dennoch...
Sie hatte Jacob gegenüber nichts von der Begegnung erwähnt, denn sie wusste, was er sagen würde. Er würde sie daran erinnern, dass sie sich schon des Öfteren von solcher Ähnlichkeit hatte täuschen lassen; bei ihren Reisen war sie mehrmals Männern begegnet, die einem ihrer verlorenen Söhne so sehr geähnelt hatten, dass ihr sein Anblick den Atem verschlagen hatte, ihr Mund trocken geworden war, ihr Herz gehämmert hatte und sie sprachlos gewesen war - alles in einem. Und jedes Mal hatte sie sich geirrt. Jedes Mal war sie bitter enttäuscht gewesen.
In diesem Augenblick kam Jacob ins Zimmer und schenkte ihr dieses leicht schiefe Lächeln, das sie immer aufheiterte, ganz gleich, wie schlecht sie sich fühlte. Er war draußen im Stall gewesen, er und Toby, mit dem er zusammen die Tiere für die Nacht versorgt hatte, und der Geruch von Schnee und Pfeifenrauch haftete noch an seiner Kleidung.
»Erzählst du mir, was dich quält, Frau, oder soll ich raten?«
June brachte ein Lächeln zustande. Es hatte keinen Sinn zu versuchen, ihrem Mann etwas zu verheimlichen; er kannte sie zu gut. »Es ist wieder passiert«, sagte sie. »Dieser junge Mann, der in der Pension von Miss Olivia wohnt. Ich habe ihn endlich zu Gesicht bekommen. Und er ist...
»... einem unserer Jungs wie aus dem Gesicht geschnitten«, vollendete Jacob sanft, als ihre Stimme brach. Er seufzte und begann sein schwarzes Hemd aufzuknöpfen. »Wer war es dieses Mal - Will oder Wes?«
Junes Augen füllten sich mit Tränen; sie presste einen Moment die Lippen zusammen und kämpfte gegen die
Woge eines alten, alten Kummers an. »Das ist es, was so sehr schmerzt, Jacob«, vertraute sie ihm an und schniefte. »Ich hätte nicht sagen können, wem von beiden er ähnelt. Nach all dieser Zeit kommt es mir vor, als wären sie zu einer Person verschmolzen, jedenfalls in meiner Vorstellung. Meine eigenen Kinder!«
Jacob trat zu ihr, zog sie auf die Füße und drückte sie an seine kräftige Brust. »Es ist lange her, Liebling«, sagte er weich und küsste sie.
Sie klammerte sich an ihn. »Ich liebe dich so sehr, Jacob McCaffrey.«
Sein glucksendes Lachen kam tief aus seiner Brust, und sie freute sich über den vertrauten Klang. »Und ich liebe dich, Miss June-Schatz. Lass uns jetzt Miss Olivias Pensionsgast vergessen und etwas schlafen. Morgen wird die Kutsche eintreffen, und die Passagiere werden ihr Frühstück haben wollen.«
June wusste, dass das stimmte, und sie war dankbar. Die harte Arbeit hatte sie im Laufe der Jahre viel vom Grübeln abgehalten - die Arbeit und Jacob, ihr lieber, lieber Jacob. »Halte mich nur noch einen Moment länger«, flüsterte sie und schmiegte das Gesicht an seine Schulter.
Er umarmte sie fester und drückte von neuem einen Kuss auf ihre Haarfülle.
Allmählich wurde sie ruhiger, und sie löschten die Nachttischlampe und legten sich schlafen. Bald schnarchte Jacob, wie er es stets tat, aber June war hellwach. Sie hatte akzeptiert, dass dieser McLaughlin nicht Will oder Wesley war, keiner von beiden. Doch das hielt sie nicht davon ab, an ihre Söhne zu denken. Sich an sie zu erinnern.
Sie waren mutwillige Jungs gewesen, beide, doch Wesley hatte ein besonderes Talent gehabt, sich und seinen Bruder in Schwierigkeiten zu bringen. Als sie zum Beispiel acht oder neun gewesen waren, hatte sich Wes beim Baden davongestohlen, sich angezogen, Wills Kleidung gestohlen und war pfeifend nach Hause heimgekehrt.
Will hatte das Schwimmen immer geliebt, und so hatte er den Teich als Letzter verlassen. June lächelte in der Dunkelheit, als sie sich daran erinnerte, wie Will den ganzen Weg heimgegangen war, im Adamskostüm durch die Felder, nur mit ein paar Blättern als
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