Sieg der Herzen
verneigten. In seinen Augen loderte es, und sein Kinn wirkte wie aus einem Felsen in Tennessee gemeißelt.
»Eine Zeit lang wusste ich nicht, wer ich war«, fuhr Wes nach einigem Nachdenken fort. »Dann sagte ich mir, ich muss Will sein, denn er war derjenige, der es verdiente zu leben. Ich verbrachte ein, zwei Tage in einem Feldlazarett der Yankees - nur eine Fleischwunde, obwohl ich viel Blut verloren hatte -, und dann li eß man mich und viele andere Männer zwei oder drei Tage lang nordwärts marschieren, bis wir zu einer Eisenbahnstation gelangten. Bis nach dem Frieden von Appomattox war ich in Washington City im Gefängnis.«
Es war eine lange Lücke zwischen dem Ende des Krieges und dem heutigen Tag, und Jacob war nicht bereit, so zu tun, als ob das keine Rolle spielte. »Und dann?«, fragte er.
Wes blickte fort und zwang sich dann, seinen Vater wieder anzusehen. »Eine Zeit lang war ich Anführer einer Bande von Räubern und Plünderern.«
»Du warst ein Bandit?«, sagte Jacob gepresst. Er zeigte immer noch wenig oder keine Emotion.
Wes schluckte hart. »Ein Mann kam ums Leben.«
June atmete scharf ein, und Jacob schloss die Augen. »Du hast gemordet? Außer allem sonst hast du gemordet?«
»Nein, Sir«, antwortete Wes. Es war ihm übel, doch er war entschlossen, alles zu bekennen. Er fühlte sich wieder, als sei er 16 und dem Tadel des zornigen Vaters ausgesetzt. »Ich schwöre es dir, ich habe niemanden getötet. Aber da ist noch etwas.«
»Was?«, fragte Jacob. Das Dröhnen seiner Stimme erinnerte an das Grollen eines Gewitters, das sich an einem heißen Tag nähert, noch fern, doch drohend.
»Ich habe Wills Namen benutzt. Ich wollte mich an den Yankees rächen und nahm an, er hätte auch mitgemacht, wenn er noch gelebt hätte. So nannte ich mich Will McCaffrey, und das ist der Name, den man auf die Steckbriefe schrieb.« Er zog das Blatt Papier aus seiner Hemdtasche, das er so viele Jahre bei sich getragen hatte - als eine Art Buße, nahm er an -, und hielt es seinem Vater hin.
Jacob nahm es nicht. Seine Miene war kalt und ruhig. »Sprich weiter«, drängte June, als sich das Schweigen dehnte.
Wes starrte ins Feuer. »Ich wollte nach Hause reiten. Einmal, zweimal, wer weiß wie oft machte ich mich auf den Weg nach Tennessee und war entschlossen weiterzureiten, bis ich dort sein würde. Einmal kam ich bis fünf Meilen an die Farm heran, doch ich musste immer an Will denken und daran, dass er an meiner Stelle hätte zurückkommen sollen. Dass ich ihm sogar das genommen hatte, was ihm nach Lookout Mountain geblieben war - seinen guten Namen.« Seine Augen brannten. Mit einem Seitenblick nahm er wahr, dass sich June auf die Unterlippe biss, während an Jacobs rechter Schläfe ein Muskel zuckte.
»Ich weiß, es ist alles meine Schuld«, fuhr er fort. »Will wäre nicht in den Krieg gezogen, wenn ich nicht gewesen wäre. Er wollte zu Hause bleiben und Farmer sein. Eine hübsche Frau heiraten.« Er lächelte bitter in der Erinnerung an sein jüngeres Ich, das so gedankenlos und voller Prahlerei gewesen war, so blind gegen die Opfer, die sein Bruder gebracht hatte.
June stieß einen gequälten Laut aus, der wie ein Stöhnen klang, sagte jedoch nichts. Sie stand kerzengerade da, und ihre Haut war fast so weiß wie der unberührte Schnee, der im Umkreis von Meilen die Ebene bedeckte.
»Meine Schuld«, wiederholte Wes. »Will wollte mich beschützen, und er machte seine Sache gut. Zu gut.«
»Oh, Wesley«, flüsterte seine Mutter. Dann ging sie zu ihm und streichelte mit einer Hand über sein Haar. Wie oft hatte er sich insgeheim danach gesehnt, wieder ihre Berührung zu spüren, besonders während der Zeit, in der er hungernd und vor Hitze vergehend oder in der Kälte frierend im Gefängnis gewesen war. »Du bist unser Sohn, und wir lieben dich. Ganz gleich, was du getan hast. Wir müssen es nur gedanklich verarbeiten, das ist alles.«
Die Beine von Jacobs Stuhl scharrten laut über den Boden, als er ihn zurückschob und aufstand. Wesley erhob sich ebenfalls; es war das Mindeste, dass er seinem Vater gegenübertrat.
»Ruhig, Jacob!«, mahnte June. »Weck Ben und Sally und ihre Kleinen nicht durch eine Szene auf.«
Jacob ließ Wesley keine Sekunde lang aus den Augen. Ohne Vorwarnung holte er aus und schlug Wes mit dem Handrücken so hart ins Gesicht, dass er fast in den Kamin taumelte.
»Du hattest zwanzig Jahre«, grollte der alte Mann. »Zwanzig Jahre, um Frieden mit der Wahrheit zu schließen.
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