Sieg der Herzen
denn je und weder herzlich noch abweisend. »Komm rein«, sagte der alte Mann, als sei es etwas völlig Normales, einen Besucher mitten in der Nacht zu empfangen.
Er trat über die Schwelle, als Jacob ihm Platz machte. Jack war so groß und breitschultrig wie Jacob, doch er fühlte sich in diesem Augenblick viel kleiner. Nervös schob er die Hände in seine Manteltaschen. Er konnte diesen grimmigen, fragenden Blick nicht erwidern, aber er konnte ihn spüren; er schien seine Haut zu verbrennen wie ein Brandeisen.
»Was...?« Es war June McCaffreys Stimme. June tauchte mit einem Glas Wasser in der Hand in einer Zimmertür auf. Beim Anblick des Besuchers ließ sie es fallen, und das Glas zersplitterte zu ihren Füßen.
Einen langen Moment starrte sie ihn nur an, als befürchtete sie, ihren Augen nicht trauen zu können. Ihre Lippen bewegten sich ein paar Mal lautlos, bevor sie schließlich etwas sagen konnte.
»Wesley«, flüsterte sie. Sie schlug eine Hand vor den Mund. »Wesley?«
Sein Herzschlag schien in seinen Ohren zu hallen. Er brachte kein Wort heraus und konnte seinen Vater nicht ansehen. Noch nicht. Aber er hielt dem Blick seiner Mutter stand. Oder war sie es, die seinem standhielt?
Hinter ihnen wurde die Tür geschlossen. Jacob hatte sie hinter sich zugezogen, und er spürte, dass der alte Mann vor Wut kochte.
»Guter Gott! «, rief June, und es klang fast erstickt vor Freude. Sie eilte zu ihm, ohne auf ihre nackten Füße und die Glasscherben zu achten. »Wesley!«
Er fing sie auf, drückte sie an sich, drehte sich einmal im Kreis mit ihr, wonach er sich so oft in all den Jahren gesehnt hatte. Seine Augen waren mit Tränen gefüllt, als er innehielt und in ihr geliebtes Gesicht hinabschaute, und sie weinte ebenfalls.
»Ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll«, flüsterte sie.
Schließlich sprach Jacob, und sein Tonfall versprach nichts Gutes. »Aber ich.« Er packte Wesley an der Schulter und riss ihn herum. »Wo, zur Hölle, bist du all diese Jahre gewesen?«, fragte er krächzend.
Wes schluckte. »Das ist eine lange Geschichte, Daddy«, antwortete er. Er war ein Mann, längst erwachsen und voll für sich selbst verantwortlich, doch seine Worte klangen verzagt wie die eines Kindes.
»Jacob!«, sagte June flehend, als befürchtete sie, dass ihr Sohn, soeben aus dem Grab zurückgekehrt, wieder verschwinden würde.
Jacob schaute nicht einmal in ihre Richtung. Sein zorniger Blick war durchbohrend auf Wes gerichtet. »Jetzt rede ich, Frau! Wir haben uns Sorgen um dich gemacht, Junge. Wir haben getrauert. Wir haben geweint und die Faust zu Gott dem Allmächtigen geballt, und die Bilder, die wir uns vorgestellt haben, waren zu schrecklich, um darüber zu sprechen. Selbst voreinander. So war es - fast zwanzig Jahre lang. Und so frage ich dich noch einmal: Wo bist du gewesen?«
Wes fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen, die trocken geworden waren wie seine Kehle.
»Lass ihn sich wenigstens hinsetzen«, bat June, und obwohl ihr Tonfall eine gewisse Schärfe hatte, war klar genug, dass sie sich nicht zwischen ihren Mann und ihren Sohn stellen würde.
Jacob wies mit einer seiner gewaltigen Hände auf die beiden Stühle vor dem Kamin.
Wes durchquerte das Zimmer und wartete, während sein Vater einige Holzscheite auf den Rost warf. Erst als Jacob Platz genommen hatte, setzte sich Wes auf den anderen Stuhl. June war unterdessen hinter ihren Mann getreten und hatte die Hände auf seine Schultern gelegt. Unter anderen Umständen und wenn Jacob nicht in Arbeitshose und wollenem Unterhemd und June im Nachthemd gewesen wäre, hätten sie für ein förmliches Foto posieren können.
Wes starrte ins Feuer und glaubte, sich selbst darin zu sehen, wie er auf dem Schlachtfeld kniete, Will in den Armen hielt und in den Himmel schrie. Er schwieg lange, und seine Eltern drängten ihn nicht zu sprechen, bevor er dazu bereit war. Ihre ernsten Blicke waren trotzdem drängend genug.
»Will fiel am Lookout Mountain«, sagte er schließlich. Er zwang sich, seiner Mutter und dann seinem Vater in die Augen zu sehen. »Es ging schnell. Sehr schnell. Viele Männer hatten nicht so viel Glück.« Trotzdem hätte ich mit jedem davon getauscht. Aber besonders mit Will, dachte er bei sich.
Er sah, wie sich die Lippen seiner Mutter lautlos bewegten, und wusste, dass sie ein stummes Gebet sprach.
Jacob sagte nichts. Er wartete nur, saß dort wie Moses, der beobachtete, wie sich die Leute vor dem Goldenen Kalb
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