Sieg einer großen Liebe
Ein paar Minuten später kam er in ihr Zimmer. Er sah so atemberaubend gut und männlich aus, daß Victoria einen ganz trockenen Mund bekam. „Du warst zum Abendessen nicht zu Hause“, bemerkte er.
„Nein“, stimmte Victoria zu und bemühte sich, seinen beiläufigen Tonfall zu treffen.
„Warum nicht?“
Sie warf ihm einen unschuldigen Blick zu. „Du arbeitest gern, und ich bin gern mit anderen Menschen zusammen. Ich dachte, es würde dir nichts ausmachen, wenn ich nicht da bin“, fügte sie ein bisschen nervös hinzu.
„Es hat mir überhaupt nichts ausgemacht“, stellte er zu ihrer Enttäuschung fest, gab ihr einen kühlen Kuss auf die Stirn und kehrte in seine Suite zurück.
Traurig sah Victoria auf die leeren Kissen neben sich. Ihr Herz wollte nicht glauben, daß es ihm egal war, ob sie beim Abendessen anwesend war oder nicht. Sie wollte auch nicht glauben, daß er in der Nacht allein zu schlafen beabsichtigte, und sie wartete lange auf ihn, doch er kam nicht.
Als sie am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich jämmerlich. Und das war noch bevor Jason frisch rasiert und energiegeladen in ihr Zimmer trat, um ihr einen Vorschlag zu machen. „Wenn du dich nach Gesellschaft sehnst, Victoria, solltest du vielleicht für ein oder zwei Tage in die Stadt fahren.“
Verzweiflung stieg in ihr auf, und die Haarbürste rutschte ihr langsam aus der Hand. Doch ihr eigenwilliger Stolz rettete sie, und sie setzte ein fröhliches Lächeln auf. Entweder er bluffte oder er wollte sie loswerden, doch was immer sein Grund sein mochte, sie würde tun, was er empfahl. „Was für eine reizende Idee, Jason. Danke für den Vorschlag.“
~ * ~
Victoria fuhr nach London und blieb vier Tage lang dort, während derer sie verzweifelt hoffte, Jason würde nachkommen. Doch er kam nicht und sie fühlte sich elend. Sie besuchte Musikveranstaltungen, ging in die Oper und traf sich mit Freunden. Im Bett lag sie dann wach und versuchte zu verstehen, wie ein Mann in der Nacht so warm und am Tage so kalt sein konnte. Sie mochte nicht glauben, daß er sie nur als Objekt für seine Begehren sah.
Das konnte nicht war sein! Sie erinnerte sich doch, wie sehr er es genossen hatte, mit ihr zu speisen und zu diskutieren. Einmal hatte er sogar ihre Intelligenz und Auffassungsgabe gelobt. Bei anderen Gelegenheiten hatte er ihre Meinung zu Fragen der Schloss- und Gutsverwaltung eingeholt oder mit ihr darüber gesprochen, wie er die Möbel in den Salons umstellen sollte.
Am vierten Abend begleitete Charles sie zu einem Theaterstück, anschließend kehrte sie ins Stadtpalais zurück, um sich für einen Ball umzukleiden. Morgen früh werde ich heimfahren, entschied sie halb ärgerlich, halb entmutigt. Sie gestand Jason den Sieg in diesem Willenskampf zu und war bereit, die Schlacht um seine Zuneigung wieder an der heimatlichen Front aufzunehmen.
In einem aufsehenerregendes Gewand aus silberndurchwirktem Chiffon erschien sie auf dem Ball in Begleitung des Marquis de Salle und des Baron Amoff.
Die Gäste sahen sich um, als Victoria eintrat, und ihr fiel erneut auf, wie seltsam man sie betrachtete. Am Tag zuvor hatte sie dasselbe ungute Gefühl gehabt. Die Blicke, die man ihr zuwarf, waren aber eher verständnisvoll und mitleidig als abfällig. Victoria konnte sich keinen Reim darauf machen. Man konnte ihr doch nicht vorwerfen, daß sie ohne Lord Fielding in London war.
Caroline Collingwood traf kurz darauf ebenfalls ein, und Victoria zog sie gleich zur Seite. Aber noch bevor sie fragen konnte, weshalb sich die Leute so eigenartig verhielten, lieferte Caroline bereits die Antwort. „Victoria“, begann sie besorgt, „ist alles in Ordnung ... zwischen dir und Lord Fielding, meine ich? Ihr habt euch doch nicht etwa schon entfremdet, oder?“
„Entfremdet?“ wiederholte Victoria verständnislos. „Ist es das, was die Leute glauben? Habe ich etwas falsch gemacht?“
„Du hast nichts falsch gemacht“, versicherte Caroline hastig. „Es ist nur, daß man unter den gegebenen Umständen falsche Schlüsse zieht... Man nimmt an, daß du dich mit Lord Fielding nicht verträgst und daß du ... nun ja, ihn verlassen hast.“
„Was habe ich" rief Victoria empört. „Weshalb sollte man das denken? Lady Calliper ist auch nicht in Begleitung ihres Mannes hier, ebensowenig Gräfin Graverton und... . “
„Ich bin auch allein hier“, unterbrach Caroline. „Aber, verstehst du, keiner unserer Ehemänner war zuvor schon einmal verheiratet, deiner
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