Siegel der Nacht: Mercy Thompson 6 - Roman (German Edition)
stören.
»Siehst du das?«, fragte ich und schob ihn vor das Gemälde, das ich mir gerade ansah.
Es war nicht das schönste Bild im Raum, bei weitem nicht. Es gab andere, die detaillierter ausgeführt waren, sogar besser gemalt, aber trotzdem sprach es zu mir, wie es die anderen nicht taten. Hier zwischen den englischen und griechischen Landschaften, den Porträts von Zofen und Wildblumen, wirkten die Cowboys ein wenig fehl am Platz.
Adam lehnte sich vor, um die Plakette zu lesen, und konnte sich so ein wenig enger an mich drücken, ohne dabei allzu auffällig zu sein. Ich schnaubte in gespieltem Spott.
»Ich sehe schon, dass du kein echter Weststaatler bist, wenn du ihn nicht sofort erkannt hast.«
»Nein, Ma’am«, sagte er gedehnt, aber ich konnte sein Grübchen sehen. Ich liebte sein Grübchen – und ich liebte es noch mehr, wenn er in den Akzent seiner Jugend verfiel. Aber besonders liebte ich seine warme Stärke an meinem Körper. Mir ging es so gut. »Ich bin ein Südstaatler.«
»Genau wie die meisten Cowboys, die er gemalt hat«, erklärte ich. »Der Westen war besiedelt von Südstaatlern, die nicht im Sezessionskrieg kämpfen wollten – oder die hierher kamen, nachdem er verloren war. Das, mein geliebter unkultivierter Wolf, ist Charlie Russell – der Cowboy, der Künstler wurde. Ohne ihn wäre Montanas Geschichte nur eine Fußnote in einem Zane-Grey-Roman. Charlie hat gemalt, was er gesehen hat – und er hat eine Menge gesehen. Kein Romantiker, sondern ein echter
Realist. Es passiert immer noch ab und zu, dass ein alter Montana-Rancher ein paar Aquarelle von ihm zusammengerollt und vergessen in einer Scheune findet. Das ist wie ein Lottogewinn, nur besser.«
Adams Schultern zuckten. »Ich spüre Leidenschaft«, sagte er mit weicher, erheiterter Stimme und sein Atem kitzelte mich am Ohr. »Aber ist es die Kunst oder die Geschichte dahinter, die dich anspricht?«
»Ja«, sagte ich einfach, als Antwort auf beide Fragen. »Ich habe dir meines gezeigt. Welches ist dein Lieblingsbild?«
Er löste sich von mir und führte mich zu einem Bild an der nächsten Wand. Die Frau saß in einer Höhle. Hinter ihr zur Linken war verschwommen ein Wasserfall zu sehen, vor ihren Füßen ein kleiner Teich. Das Faszinierende an dem Bild war das Leuchten der zentralen Figur, das durch eine Verbindung der Farbe, der Beschaffenheit ihrer Haut, ihrer Kleidung und der Haltung der Figur erreicht wurde. Das Gemälde hieß Solitude.
Dieses Bild hatte nichts vom Dreck und der detaillierten Derbheit, die mich in dem Russel-Gemälde ansprach. Das war keine Frau, die aufstehen musste, ihre Kleidung waschen und Essen kochen. Trotzdem …
»Okay«, sagte ich. »Auch an diesem Bild würde ich mich nicht sattsehen, sollte es in unserem Wohnzimmer hängen. Aber ich warne dich, neben meinen Charlie Russels wird es ganz schön seltsam wirken.«
Er küsste mein Ohr und lachte.
Die indianische Ausstellung war im Keller. Sam Hill hatte anscheinend zusammen mit dem Rest seiner Kunst auch Körbe der nordamerikanischen Indianer gesammelt.
Jede Menge Körbe. Über die Jahre hinweg waren auch andere Dinge hinzugekommen – einige fantastische Fotografien, zum Beispiel, und große Steine mit Petroglyphen. Trotzdem hatte man überwiegend den Eindruck, es gäbe eine Million Körbe und dann noch ein paar andere Sachen.
Auch hier waren wir nicht allein. Die Familie von oben sah sich die Petroglyphen an. Das älteste Mädchen löste sich von ihren Eltern und drückte ihr Gesicht gegen das Plexiglas von einem der Ausstellungskästen.
Dann gab es noch eine Indianerin in mittleren Jahren, die allein war. Ihr Gesicht war ernst, obwohl es ein Gesicht war, das anscheinend deutlich besser lächeln konnte als böse dreinblicken. Überall um ihre Augen und ihren Mund zogen sich Lachfalten, und ihre gesamte Aufmerksamkeit war auf Adam und mich gerichtet.
Aus irgendeinem Grund machte mich das etwas nervös. Also wandte ich mich von den Steinreliefs am Eingang ab und ging zu den Körben, so dass ich der Frau den Rücken zukehrte.
Die Körbe waren außergewöhnlich. In einigen davon waren die Muster aus Fast-Strichmännchen erstaunlich kraftvoll, und das auf eine Weise, die ich in der extremen Stilisierung, die beim Flechten nötig war, nicht für möglich gehalten hätte.
»Es ist gut, dass ich nicht damals geboren worden bin«, meinte ich zu Adam. »Ich habe auf dem College mal einen Kunstkurs belegt und eines der Projekte war, einen Korb zu
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