Silber
befand sich ein kleines, aber quälendes Stück außerhalb seiner Reichweite.
„Sie sind doch etwas Besonderes“, sagte die Frau, als sie den Rollstuhl aus dem Weg zog. „Es ist bedauerlich, dass ich Sie töten muss.“
„Es ist bedauerlich, dass ich sterben soll“, sagte Sir Charles. Er zog sich weitere zwanzig Zentimeter über den Boden, auf den Stock zu, der an der Wand lehnte. Er hoffte inständig, dass sie weiterhin keinen Verdacht schöpfen würde. Er drehte den Kopf, um zu ihr aufsehen zu können, dann ließ er seinen Blick absichtlich langsam und sehnsuchtsvoll zu seinem Stock zurückwandern, in dem Wissen, dass sie diesem Blick folgen würde, ohne zu ahnen, was für ein verschlagener alter Narr er war. Der Gehstock war mehr als nur ein Accessoire für den alten Mann, und er hatte nicht vor, ihr eins mit einem Holzstock überzuziehen. Es handelte sich um einen Stockdegen. Mit einer kleinen Drehung des geschnitzten Knaufes würde das Verbindungsstück aus Messing brechen. Eine fünfundvierzig Zentimeter lange Klinge war in dem hölzernen Schaft des Stocks verborgen. Wenn er ihn erreichen konnte, und wenn sie nahe genug herankam, hatte er eine Chance. Es war zwar nur eine geringe Chance, aber das war unendlich viel besser, als gar keine zu haben.
Er zog sich weiter in Richtung des Stocks.
„Nun, unser Bedauern ändert wohl nichts an der Tatsache, nicht wahr?“, sagte sie, während sie um das Bett herumging und sich über ihm aufbaute. „Das fühlt sich an, als ob ich meinen eigenen Großvater töten würde“, sagte sie kopfschüttelnd. „Das hat mir ebenfalls keinen Spaß gemacht.“
Der Alte lag auf dem Bauch, sein linkes Bein war unangenehm verdreht, weil es immer noch unter dem Bettrahmen steckte, das rechte lag angewinkelt neben ihm. Er lag auf dem Boden wie ein Kreideumriss aus einem Fernsehkrimi, der nur noch nachgezogen werden musste. Der Stockdegen war fünfzehn Zentimeter von seinen Fingern entfernt. So nah und doch so fern. Alles um ihn herum kam ihm plötzlich hyperreal vor. Er sah die einzelnen Fäden des Bettvorlegers und roch die Gummiablagerungen, die von den vielen Überfahrten mit dem Rollstuhl stammten. Selbst die Maserung des hölzernen Bettrahmens hatte viel schärfere Kontraste; es kam ihm vor, als ob er gerade entdeckt hätte, dass die Zeichnung in Wahrheit eine detaillierte Schatzkarte war.
Er hörte, wie die Tür aufgestoßen wurde, doch er verschwendete keine Zeit damit, sich umzusehen. Er wusste, dass es Frost war. Er nutzte diesen Sekundenbruchteil, um sich das letzte Stück an den Stockdegen heranzuziehen. Er streckte den Arm aus und streifte ihn knapp mit den Fingerspitzen, dann streckte er seinen Oberkörper und gewann so ein paar weitere Zentimeter. Seine Hand schloss sich um den dünnen Holzschaft. Er zog den Stock an seine Brust und brach die Messingtülle. Es dauerte eine endlos scheinende Sekunde, in der er ständig mit dem gedämpften Knall eines Schusses rechnete, der ihn in das Nichts des Todes stürzen würde.
Sobald er den Degen ganz aus der Scheide gezogen hatte, stach er damit sofort nach oben. Er hatte nicht viel Reichweite, doch nach all den Jahren im Rollstuhl hatte er einen unwahrscheinlich kräftigen Oberkörper. Er stieß mit aller Macht zu und spürte, wie die Klinge auf einen Knochen traf, davon abglitt und tiefer in den Körper der Frau eindrang. Er drehte die Klinge brutal herum und vergrößerte damit die Wunde. Sie schrie. Der Laut wurde schnell erstickt. Ihr Körper zuckte auf der Klinge und hörte kurz darauf auf, sich zu bewegen. Einen langen Augenblick stand sie da, nur gehalten vom Degen und der Kraft im Arm des Alten.
Er hörte einen Schuss, spürte aber nichts.
Eine Fontäne aus Blut spritzte über sein Gesicht, und noch mehr Blut lief über die Klinge und seinen Arm herab. Dann bemächtigte sich die Schwerkraft der Leiche der Frau und zog sie bis zum Heft des Degens herab. Er konnte ihr lebloses Gewicht nicht länger halten. Sie fiel weiter, sank quer über seinen Körper und pinnte ihn auf den Bettvorleger. Er mühte sich nach Kräften, aber er konnte sich nicht von ihr befreien.
Er hörte die Dielenbretter unter einem vorsichtigen Schritt quietschen.
Einen Augenblick später sah der Alte Ronan Frost, der über die Schulter der toten Frau zu ihm herabblickte.
„Sie haben sich ganz schön Zeit gelassen“, sagte er. „Ist Maxwell …?“
Frost sagte nichts. Stattdessen zog er die Leiche der Assassinin von dem alten Mann
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