Silber
Grace schon seit fast drei Jahren an dem Fall Metzger gearbeitet hatte.
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und überlegte, was dieses kleine Informationsfundstück für das Gesamtbild bedeutete. Jude Lethe stellte sich das Leben als ein riesiges Puzzle aus Millionen von Teilen vor, von denen jedes einzelne eine Aktion, eine Reaktion, eine Person, eine Begegnung, einen Ort oder ein Ereignis darstellte – und erst, wenn all diese Teile richtig angeordnet waren, würde das Ganze langsam einen Sinn erkennen lassen. Er hatte schon oft davon gehört, dass man kurz vor dem Tod noch einmal das ganze Leben vor seinem geistigen Auge vorüberziehen sah. Für Lethe beschrieb das einen Moment, in dem man das vollständige Mosaik sah – und nicht nur wie sonst die wenigen Teile, die sich gerade in der Nähe befanden.
Grace Weller hatte Metzger drei Jahre lang beschattet. Das hieß für das Gesamtbild zumindest, dass Metzger schon seit drei Jahren etwas getan hatte, das beobachtenswert war.
Lethe überflog die einzelnen Dokumente, er suchte dabei nach auffälligen Schlüsselwörtern. Er fand Observationsprotokolle über Grey Metzger, in denen jede seiner Bewegungen der letzten zweieinhalb Jahre aufgelistet war. Es gab Hunderte von Digitalfotos, auf denen die beiden zusammen zu sehen waren, in hohen und niedrigen Auflösungen, fotografiert in verrauchten Bars, Vorlesungssälen, neben Denkmälern, bei Ausgrabungen, in Cafés und Restaurants; sie hielten Händchen, umarmten und küssten sich. Keines der Bilder zeigte Metzger mit einem verdächtig wirkenden Päckchen in der Hand, oder bei einem konspirativen Treffen mit Aktenkofferträgern auf einer vom Nebel umwaberten Parkbank. Es war ein Leben in Bildern – das Leben von Grey Metzger, um genau zu sein. Und es sah wie ein ganz gewöhnliches Leben aus.
Unter den Dateien befand sich auch ein Adressverzeichnis, das buchstäblich alles enthielt: von Telefonnummern und elektronischen Kontaktlisten bis hin zu Kopien von E-Mails und Protokollen über ein- und ausgehende Telefongespräche. Grace hatte Metzger mit einer Gründlichkeit überwacht, die schon fast an Besessenheit grenzte.
Und dann, vor sieben Monaten, war sie mit ihm in Kontakt getreten. Es stand alles in ihrem Bericht. Sie hatte Metzger verführt und anschließend langsam sein Vertrauen gewonnen. Sie waren ein Liebespaar geworden.
Ihr Bericht klang sehr kalt, als ob all diese Geschehnisse an ihr vorübergezogen wären, ohne die geringsten Gefühle in ihr auszulösen. Sie hatte die Aufgabe erhalten, sich in Metzgers Leben und sein Vertrauen zu schleichen, und sie hatte ihr ganzes Können darauf verwendet, diese Aufgabe zu erfüllen. Lethe konnte sich nur schwer vorstellen, wie ein Leben aussah, in dem man sich von allen Intimitäten emotional distanzieren musste, oder eine Beziehung, die nur auf Pflichterfüllung und professionelle Lügen reduziert war.
Aus den Unterlagen ging hervor, dass Grace Weller vor drei Monaten bei Grey Metzger eingezogen war, vier Monate nach dem Erstkontakt. Damit hatte die Observierung allerdings nicht aufgehört, die Berichte waren sogar eher noch detaillierter geworden. Mitte Oktober hatte sie das erste Mal von ihrer Befürchtung geschrieben, dass Metzger sich mit jemandem namens Mabus eingelassen habe.
Das Wort kam Lethe bekannt vor. Er starrte auf den Bildschirm. „Mabus“, sagte er und schmeckte dem Klang der Laute auf der Zunge nach. Er hatte diesen Namen schon einmal gehört. Er wusste nicht wo, aber er war sich sicher, dass er ihn schon einmal gehört hatte. Er sprach ihn nochmals laut aus, und ein drittes Mal, weil aller guten Dinge drei sind. Es funktionierte: Er hatte den Namen zwar nicht gehört, aber er hatte ihn schon einmal gelesen. Und er wusste ganz genau, in welchem Zusammenhang.
Es war der Name, den Nostradamus dem dritten Antichristen gegeben hatte. Erst kam Napoleon, dann Hitler und schließlich Mabus. Er blickte auf einen der Bildschirme und startete dort eine Suche nach Mabus, mit Nostradamus als Querverweis. Als Ergebnis erhielt er erwartungsgemäß fast nur Seiten mit Verschwörungstheorien über den Aufstieg des Antichristen, den Mabus-Code, den Mabus-Kometen und ähnlichen Unsinn.
Er fand aber auch die Passage aus dem Text von Nostradamus, die Quatrain 62 aus der zweiten Centurie:
Mabus wird alsbald zu Tode kommen, es folgt
Das furchtbare Ende der Menschen und Tiere
,
Plötzlich wird man die Rache sehen, hundert Kräfte, dürstend
,
Und Hungersnot,
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