Silber
ihr Gepäck zu durchwühlen; damit konnte sie ihre Waffe unbehelligt ins Landesinnere bringen. Sokol bedeutete ihr, in eine schwarze Mercedes-Benz-Limousine zu steigen, die das Wappen des Nachrichtendienstes der Israelischen Streitkräfte trug,
Agaf ha-Modi’in
. Er schloss die Tür hinter ihr und stieg auf der anderen Seite des Fahrzeugs ein.
„Wir werden bald bei Generalleutnant Caspi sein. Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Flug?“ Das war ein ziemlich erbärmlicher Versuch, einen Smalltalk zu starten, dachte Orla bei sich.
„Ja, das hatte ich“, sagte sie in einem leicht genervten Tonfall, und sah aus dem Fenster. Irgendwie sahen die Flughäfen auf der ganzen Welt gleich aus, überlegte sie, während die Limousine an der Reihe der wartenden Taxen vorbeifuhr. Eine Autoschlange kroch die Rampe zu einem mehrstöckigen Parkhaus hinauf. Auf der Anzeigetafel über der geschlossenen Schranke stand, dass das Parkhaus voll war; für jedes Auto, das hinein wollte, musste erst ein anderes herausfahren. Die Straßen außerhalb des Flughafengeländes, mit ihren niedrigen und bunt angesprühten Häusern, kamen ihr sofort bedrückend vertraut vor. Nach fünf Minuten fuhren sie an einem Mann vorbei, der auf einem klapprigen Tisch am Straßenrand Kartons mit Eiern verkaufte. Zwei Minuten später sah sie eine alte Frau – ein hartes Lebens hatte tiefe Furchen in ihr Gesicht gegraben –, die Obst aus einem Tragekorb feilbot. Ein kleines Mädchen auf einem roten Fahrrad trat fest in die Pedale; das Rad neigte sich von einer Seite zur anderen, während sie auf eine der Häuserzeilen zuraste. Sie hatte den Kopf gesenkt und achtete nicht auf den Verkehr. Zweimal wurde sie von Autofahrern angehupt, als sie gefährlich nahe in ihre Bahn geriet. Die Gebäude hatten keinen einheitlichen Stil; es wirkte fast, als ob sie zufällig aus der Wüste gewachsen wären, jedes in einer anderen Form und Größe. An einigen davon sah sie Graffiti mit schwarzer Farbe, und sie las immer und immer wieder das Wort
Jahwe
, einen der sieben Namen Gottes, zwischen anderen, unleserlichen Worten.
Nach zwei weiteren Minuten auf der Straße wichen die kleinen Häuser leeren und öden Feldern. Auf einem davon sprossen Solarzellen aus dem Boden wie Mais, ihre glänzenden Glasflächen reflektierten das grelle Sonnenlicht. Auf dem nächsten Feld standen die Zelte eines Sinti und Roma-Lagers. Das war das Wesen von Israel, zusammengefasst in einer kurzen Autofahrt: ein krasser Gegensatz zwischen der Not des einfachen Volkes und dem Wohlstand der Hightech-Industrie.
Orla spürte die Limousine langsamer werden, als sie sich dem Stadtgebiet näherten.
Sie blickte auf den Bordstein, dessen rot-gelbe Streifen sich mit hypnotischer Regelmäßigkeit vor dem Fenster wiederholten.
Der Fahrer blinkte nach rechts und verringerte die Geschwindigkeit. Dann bog er noch zweimal nach rechts ab. Zwischen den Häusern waren etliche Telefonkabel gespannt. Die Straße wurde schmaler, die Häuser wurden höher, und die Telefonleitungen waren hier mit Wäsche behängt. Der Fahrer blickte überrascht auf. Wer hängte seine Wäsche denn an Telefonleitungen auf? Es war merkwürdig genug, dass es ihm auffiel.
An der nächsten Abzweigung verließen sie die Hauptstraße und bogen auf eine von Palmen gesäumte Nebenstraße ab, die auf eine Hügelkuppe hinaufführte. Dort befand sich eine riesige, unbebaute Fläche, auf der Arbeiter emsig mit Eisenträgern, Bewehrungsstahl und Beton an etwas arbeiteten, das wohl das Fundament des nächsten Wolkenkratzers für die Skyline von Tel Aviv war. Es dauerte einen Moment, bis Orla sich orientieren konnte. Obwohl sie nur wenige Jahre fort gewesen war, hatte die Stadt sich sehr verändert.
Sie fuhren den Saulshügel hinauf. Dort oben gab es keine Einrichtungen der Israelischen Streitkräfte – oder zumindest hatte es dort keine gegeben, als sie noch in Tel Aviv gelebt hatte. Wenn sie sich richtig erinnerte, war die einzige militärische Anlage in der Nähe der Kiryat Schaul, und der hatte nicht viel mit dem Geheimdienst zu tun. Es war ein Militärfriedhof, auf dem unter anderem die Opfer des Jom-Kippur-Krieges beigesetzt waren.
Sie warf Uzzi Sokol einen fragenden Blick zu. Der Israeli ignorierte sie und starrte stur geradeaus. Wenig später beugte er sich nach vorn, um dem Fahrer auf die Schulter zu tippen. Der Mann nickte, dann verlangsamte er den Wagen, setzte den Blinker und fuhr durch das Friedhofstor.
„Wohin fahren wir?“,
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