Silberband 081 - Aphilie
das Kind, dem er ein Schlafmittel gegeben hatte, neben sich auf die Sitzbank. Als Melbourne unter ihm verschwand, dachte er an Vester und dessen ungewisses Schicksal. Es gab keine Möglichkeit, ihm zu helfen, denn die Geheimhaltung der Organisation war oberstes Gesetz. Vielleicht lebte Vester schon nicht mehr, was unter den vermuteten Umständen durchaus wahrscheinlich erschien. Das erklärte den fehlenden Funkkontakt.
Der Flug zur Nordküste verlief ohne Zwischenfälle. Unter dem Gleiter zogen Gebirge und Steppen dahin, immer wieder durch riesige Städte und Werksanlagen unterbrochen. Trotzdem konnte Australien noch heute als wenig dicht besiedelt bezeichnet werden.
Im Norden wurden die Siedlungen häufiger, und entlang der Küste reihte sich Stadt an Stadt. Der Pilot landete auf einem kleineren Flughafen und übergab Harst einen Ausweis. »Fast hätte ich es vergessen«, entschuldigte er sich. »Ihr Sohn benötigt Papiere für den Flug nach Borneo. Ich hoffe, er hat sich gut erholt.«
Harst Den Vol stellte keine Fragen und nahm den Ausweis. Der Rest war Routine.
Er verzichtete auf den Transmitter, die schärfer kontrolliert wurden, und bestieg eine der großen Maschinen. In wenigen Stunden würde er auf Borneo sein. Das Erkennungssignal hatte er bereits empfangen.
Er wurde erwartet.
Kervin M. Caughens stolperte eine Stunde lang durch die mondlose Nacht, ehe ihm bewusst wurde, was eigentlich geschehen war. Er blieb stehen und sah zurück. Die wenigen Lichter von Terence waren bereits verschwunden.
Er versuchte zu begreifen, warum er sich jetzt in Freiheit befand. Jemand, den er noch nie in seinem Leben gesehen hatte, war in die Zelle gekommen und hatte von ihm die Einweisung ins Stummhaus verlangt. Dann hatte er sich in sein Ebenbild verwandelt und ihn freigelassen. Der Mann war zurückgeblieben, um seine Rolle weiterzuspielen. Eine solche Handlungsweise war unsinnig und entbehrte jeglicher Logik.
Kervin stand da und überlegte, aber sosehr er versuchte, einen Sinn in der Handlungsweise des Fremden zu finden – es gelang ihm nicht. Der Unbekannte musste verrückt sein. Oder doch nicht …? Er gab es auf, weiter darüber nachzudenken, denn plötzlich tauchte ein viel größeres Problem vor ihm auf. Konnte er in der Dunkelheit den Weg zur Höhle und zu Kathleen finden? Morgen, wenn es hell wurde, würde ihm das Gebirge die Richtung zeigen, aber ein Gipfel sah wie der andere aus. Und selbst wenn er das Tal und das Plateau fand, war noch längst nicht alles in Ordnung. Was würde Kathleen zu seiner Geschichte sagen? Würde sie ihm glauben? Und würde sie sehr zornig reagieren, wenn er ohne das Gewehr kam?
So etwas wie Protest keimte in ihm auf, sobald er an Kathleen dachte. Sie hätte ja selbst nach Terence gehen können, wenn sie unbedingt ein Gewehr haben wollte. Mit ihrer unsinnigen Rechthaberei hatte sie nicht nur sich selbst, sondern auch ihn in größte Gefahr gebracht. Dass ein Wunder geschehen würde, konnte sie vorher nicht gewusst haben.
Am Himmel standen nur wenige Sterne, und obwohl es vor hundertzwanzig Jahren noch völlig fremde Konstellationen gewesen waren, kannte sie heute jedes Kind. Kervin entsann sich noch jener alten Sternbilder. Da hatte es den Großen Wagen und den Polarstern gegeben, der die Richtung gezeigt hatte. Er wurde heute durch einen blauen Doppelstern dicht über dem nördlichen Horizont ersetzt.
Kervin musste nach Osten gehen, ließ den blauen Doppelstern also links liegen und lief weiter durch die Nacht. Weit vor ihm lag ein dunkler Streifen unter dem allmählich heller werdenden Himmel. Das musste bereits das Gebirge sein.
Später blendete ihn die Sonne, aber er glaubte, seine Umgebung wiederzuerkennen. Einige Hügelformationen fielen ihm auf. Die hatte er schon einmal gesehen. Endlich erreichte er das Tal mit dem Bach und schließlich das kleine Plateau mit der Höhle.
Kathleen konnte er nirgends entdecken, aber zu seiner Verwunderung verspürte er deswegen sogar Erleichterung. Vielleicht war sie unterwegs und sammelte Holz, oder sie versuchte, ein wildes Kaninchen zu fangen.
Vor der Terrasse setzte er sich auf einen Stein. Der lange Weg hatte ihn erschöpft. Es war kurz nach Mittag und warm. Sein geheimnisvoller Doppelgänger würde inzwischen in Melbourne im Stummhaus sein, wenn niemand den Tausch bemerkt hatte.
Wirklich, der Mann musste den Verstand verloren haben.
Vester hörte hinter sich ein Geräusch. Es war Kathleen. Sie kam aus dem Wald und brachte ein
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