Silberband 095 - Mensch aus dem Nichts
»Setzen Sie sich, Kommandant! Ich kann mich nicht bewegen. Wo bleibt der Roboter?«
»Er ist unterwegs. Was ist passiert?«
Der Vario-500 erschien im Türschott und kam in die Kabine. In seiner eigentlichen Gestalt war er nur fünfzig Zentimeter groß und glich einem auf zwei Beinen daherstelzenden Ei. Besorgt eilte er auf Vanne zu. »Was ist passiert?«, wiederholte er die Frage des Kommandanten.
Kershyll Vanne fiel das Sprechen weiterhin schwer, stoßweise brachte er die Worte hervor. Den Fremden, der in seinen Körper eingedrungen war, auf Distanz zu halten kostete ihn die meiste Anstrengung. »Ein weiteres Bewusstsein ist in mich eingedrungen … aber es kann kein normales Bewusstsein sein. Es ist stark, ungemein stark. Und es ist fremd! Ich weiß nicht …« Sein Aufschrei ließ Varmell entsetzt zurückweichen.
Der Vario-500 hingegen trat ans Bett und versuchte, Vanne zu beruhigen. »Kämpfe nicht dagegen an, mein Freund. Vielleicht ist ein Kontakt heilsam und erwünscht. Nicht mehr wehren, hörst du?«
Aber Vanne hörte nicht mehr. Mit geschlossenen Augen lag er reglos auf dem Bett. Langsam und regelmäßig hob und senkte sich sein Brustkorb, als sei er in tiefe Bewusstlosigkeit gefallen.
Ernst Ellerts Verwirrung war unbeschreiblich. Für ihn schien es absolut undenkbar, dass ein Körper sieben Bewusstseine enthielt. Sechs davon stemmten sich sofort gegen sein Eindringen.
Was die dunkelrote Sonne Arcur-Beta anging, so befand er sich im Augenblick außer Gefahr, von ihr absorbiert zu werden. Der fremde Körper hatte ihn davor gerettet. Was aber würde geschehen, wenn er sich nicht in diesem Körper halten konnte?
Verzweifelt versuchte er, Kontakt aufzunehmen. Aber das Hauptbewusstsein – ein gewisser Kershyll Vanne – reagierte ablehnend. Trotzdem gelang es ihm, das Erinnerungsreservoir anzuzapfen, wenn auch nur für Bruchteile von Sekunden. Was er in diesem kurzen Zeitraum erfuhr, war schockierend und beruhigend zugleich. ES, der Unsterbliche vom Kunstplaneten Wanderer, war mit im Spiel.
Mehr konnte er dem Gedächtnis des seltsamen Individuums nicht entnehmen, das ihn unfreiwillig gerettet hatte. Kershyll Vanne war Terraner, daran bestand kein Zweifel, wenngleich ein sehr seltsamer Terraner. Und er besaß einen gewissen Kontakt zu ES, was das Geheimnis um ihn weiter vergrößerte.
Aber wenn das alles so war, verstand Ernst Ellert nicht, warum Vanne sich gegen die Aufnahme seines Bewusstseins zur Wehr setzte. ES musste wissen, in welcher Gefahr er sich befand.
Ellert spürte den Schock, den die sieben Bewusstseine erlitten hatten. Sein Versuch, abermals Verbindung aufzunehmen, scheiterte kläglich. Das mentale Chaos nahm Überhand und drohte ihn aus dem Verbund hinauszudrängen. Mit aller ihm verbliebenen Energie stemmte er sich dagegen und erreichte, dass er zunächst Halt fand.
Es war nicht seine Absicht gewesen, seinem unfreiwilligen Gastkörper Schaden zuzufügen oder gar dessen Existenz zu gefährden. Er hatte nur Zuflucht vor der drohenden Vernichtung seines eigenen Daseins gesucht, das war alles.
Der Sog machte sich wieder bemerkbar, wenn auch anders als zuvor. Nun vermittelte er etwas Beruhigendes, keine Drohung. Aber er zerrte weiterhin an Ellerts Bewusstsein, das mit allen Kräften versuchte, in dem Körper zu bleiben.
Woher kam dieser Kershyll Vanne überhaupt? Und was hatte ES damit zu tun? Ernst Ellert stellte sich diese Fragen, obwohl er genug damit zu tun hatte, dem auf ihn einwirkenden Zwang zu trotzen.
Übergangslos wurden die vereinten Bewusstseine wieder aktiv. Mit einer ungeheuren Anstrengung wurde Ellert von ihnen angegriffen und mit unwiderstehlicher Gewalt aus dem rettenden Gastkörper hinausgedrängt. Vergeblich suchte er nach einem festeren Halt, denn er wusste, welches furchtbare Schicksal ihm ohne Körper drohte. Die werdende Neutronensonne würde ihn in das Nichts schleudern, aus dem es keine Rückkehr gab.
Die Verbindung riss, als haben jemand ein rettendes Seil durchschnitten. Ernst Ellert stürzte ins Uferlose. Aber er fiel nicht der Sonne entgegen. Das Raumschiff blieb zurück, die beiden Sterne versanken in der Finsternis des interstellaren Raumes. Alle Sterne erloschen, als Ellert in die Existenzebene des Unbegreiflichen glitt.
Hatte ihn das Schicksal nun doch ereilt …?
Nicht so, wie er zuerst befürchtet hatte, denn Arcur-Beta hatte damit nichts zu tun. Kershyll Vanne, gemeinsam mit seinen anderen sechs Bewusstseinen, hatte ihn davongestoßen.
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