Silberband 103 - Facetten der Ewigkeit
die Sklaven jubelten. Chufu deutete auf den Schreiber, der seine Palette schwenkte. »Schreibe es auf, Hesirâ!«
Hesirâ tauchte seinen zerkauten Schilfstängel ein und notierte die Worte des Pharaos auf seiner Schreibplatte, um sie später auf Papyrus niederschreiben zu können.
»Im dritten Jahr der Herrschaft suchte und fand der Pharao den Platz für sein Totenmal. Der Pharao und seine Vertrauten reisten weit und lange und wurden von dem Platz durch göttliche Zeichen angezogen. Die Götter bestimmten den Platz, und wir gehorchen ihnen.
Man soll anfangen, eine tiefe Grube für die Fundamente auszuheben. Mein Körper wird verborgen werden in der Tiefe der Pyramide. Baumeister Menketre wird alle Arbeiten überwachen; seine Entwürfe sind mir bekannt. Er wird überall im Reich des Oberen und Unteren Nils jede Unterstützung bekommen. Er wird ohne Eile, ohne unnötigen Aufwand an Material, Menschenkraft und Transportmitteln bauen und so das Ziel erreichen, das uns die ewigen Götter des Reiches gewiesen haben. So soll es geschrieben werden, so wird es geschehen.«
Alle Umstehenden murmelten zutiefst ergriffen: »So wird es geschehen!«
Vor seinen Augen nahmen die geschliffenen Facetten wieder Kontur an. Keuchend sog Boyt Margor die Luft in seine Lungen. Er schüttelte sich.
Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass etwa drei Stunden vergangen waren. Also hatte er alles in realer zeitlicher Länge beobachten können. Und das Erstaunlichste war, dass er diese Menschen tatsächlich Wort für Wort verstanden hatte.
Folgerichtig erkannte er, dass nicht so sehr die Zeitverschiebung das wirklich Wunderbare war. Der Umstand, dass seine Gedanken den Vorgang steuerten, war von größter Bedeutung. Und weiterhin die geradezu kuriose Wirkung, nämlich das Verstehen einer Sprache, die vor rund sechseinhalb Jahrtausenden im Nilland gesprochen worden war - Chufu hatte seine Pyramide etwa um das Jahr 2600 vor der Zeitenwende errichten lassen.
Wenn der Effekt für das alte Ägyptisch galt, würde er auch für andere Sprachen zutreffen. Vielleicht sogar für die Sprachen ferner Planeten. Die Aspekte waren schwindelerregend.
»Das Ding ist mehr als nur eine optische Zeitmaschine«, murmelte der Mutant. Er stand auf und ging unruhig im Raum hin und her. Immer wieder schweiften seine Blicke zu dem geschliffenen Fundstück zurück.
Margor schlang hastig eine kleine Mahlzeit hinunter, trank etwas, das er in seiner Küche fand, und warf sich wieder in den Sessel. Er starrte die kristallene Oberfläche an, kam ihr immer näher und versank stöhnend ein zweites Mal in dem ungewissen Wabern der Dunkelheit.
Abermals steuerte sein Wunsch die Funktion.
Der Pharao stand, vor der grellen Sonne durch ein Segel aus Leinen geschützt, auf der Terrasse. Er deutete auf das große, aus trockenem Lehm und Holz gefertigte Modell. »Es gefällt mir«, sagte er.
Menketre senkte dankend den Kopf. »Achthundert Arbeiter haben sich aus allen Teilen des Landes eingefunden«, erwiderte der Baumeister. »Sie schaufeln den Sand zur Seite.«
»Die Götter sind dir wohlgesinnt, Chnemu Chufu«, sagte der Palastpriester, ein hagerer Mann in weißem Lendenschurz, mit einem Schädel wie aus polierter Bronze.
»Ich werde ihren Schutz auch weiterhin brauchen«, beschied der Pharao. Zwischen den Säulen tauchte Hesirâ auf und wirkte sehr verstört. Der Herrscher winkte ihn heran.
»Ein Bote erschien eben im Palast. Verwirrende Dinge geschehen, Herr.«
»Ein Bote? Woher?«
Wie jeder Herrscher hatte auch der Pharao ein zwiespältiges Verhältnis zu Botschaften und deren Überbringern. Die Nachrichten mochten gut oder schlecht sein, auf jeden Fall bedingten sie meistens schnelle Änderungen eines bestehenden Zustands.
»Ein Bote von der Baustelle deines Totenmals, Herr. Lasse ihn selbst berichten. Er hat die Barkensklaven bis hierher gepeitscht.«
»Er soll kommen!«
Mit großspuriger Bewegung winkte der Schreiber. Ein junger Mann erschien, hinter ihm schleppten keuchende Träger einen großen Korb an zwei Stangen. Als sie sich dem Pharao bis auf wenige Meter genähert hatten, warfen sie sich zu Boden und pressten ihre Gesichter auf die Steinplatten.
Der Pharao sah die Spuren der Riemen auf den schweißüberströmten Rücken der Sklaven und verzog missbilligend das Gesicht. »Steht auf und berichtet!«, sagte er.
Der junge Mann lächelte scheu. »Nach zwei Tagen, Herrscher des Nillands, als wir etwa so tief gegraben hatten, dass der Scheitel eines großen
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