Silberband 105 - Orkan im Hyperraum
dort einen absolut nebensächlichen Träger zu verbiegen, konnte entweder nicht ganz richtig im Kopf sein, oder er verfolgte Pläne, die noch nicht erkennbar waren.
Irmina Kotschistowa war betroffen gewesen, als sie spürte, wie sehr sich alles in der SOL bereits verändert hatte. Das hatte nicht nur mit ein paar Umbauten zu tun, mit neuen Einrichtungen in den Lagerhallen oder der radikalen Umstellung sämtlicher Bordfunksendungen. Die wahren Veränderungen gingen tiefer, sie reichten bis an die Seele dieses Schiffes heran.
Ein nie gekannter Umgangston bestimmte das Leben in der SOL. Seit Langem waren die SOL-Geborenen in der Überzahl, aber erst jetzt wurde der Mutantin bewusst, dass sie auch eine eigene Auffassung von Kultur und Zivilisation entwickelt hatten. Manchmal schien es ihr, als hätten die Solaner all die Jahrzehnte in einer besonderen Form von Untergrundgesellschaft gelebt.
Irmina kam an Aufenthaltsräumen vorbei, die sie von früher kannte. Die Möbel waren geblieben. Statt Bildern von Planetenlandschaften gab es bizarre Grafiken und astronomische Darstellungen. Eines der beliebtesten Motive war der Leerraum: ein Stück Außenhülle der SOL, kaum erkennbar im matt spiegelnden Licht, die nebelhaften Flecken ferner Galaxien, davor bestenfalls eine Space-Jet, die sich klein und verloren in der bedrohlichen Schwärze ausnahm. Daneben hingen Abbildungen fremder Raumschiffe oder Bilder von einsamen Materiebrocken, die nackt und kalt durch den Weltraum zogen.
Irmina Kotschistowa wandte sich schaudernd ab.
Wohin sollte das alles führen? Waren die SOL-Geborenen sich überhaupt bewusst, welche Richtung diese Entwicklung nehmen musste? Glaubten sie, wirklich ohne die von ihnen verachteten Planeten leben zu können?
Wenigstens in einem Punkt würden sie noch für geraume Zeit auf den Boden der Normalität zurückkehren müssen: Die Wasservorräte ließen sich nicht völlig aus eigener Kraft aufbereiten. Aber die Raumschiffe, die das kostbare Nass herbeizuschaffen hatten, würden keinen Menschen durch den Weltraum tragen, sondern von Robotern bemannt sein.
Auf gewisse Weise drohte den Solanern die Degeneration.
Die Mutantin erreichte den Wohnsektor, in dem sie Sternfeuer treffen wollte. Sie hatte eine verschwommene Vorstellung davon, dass das Mädchen in Gefahr schwebte, hoffte aber, dass sie sich irrte. Es schien, als sei Sternfeuer eine Mutantin, deren Fähigkeiten aber noch brachlagen. Irmina wusste aus eigener Erfahrung, dass extreme gefühlsbetonte Situationen solche Fähigkeiten zum Durchbruch bringen konnten – was oft nicht einmal für die Umgebung, sondern für den betreffenden Mutanten selbst Schwierigkeiten mit sich brachte.
Sternfeuer wartete bereits. Sie stand vor der Tür zur Kabine des alten Torboros. Auf den ersten Blick hatte das Mädchen sich überhaupt nicht verändert. Irmina atmete innerlich auf.
Sternfeuer war neugierig und ein bisschen misstrauisch. Möglicherweise hielt sie Kotschistowas Behauptung, Torboros habe etwas vergessen, für einen Vorwand. Doch die Mutantin hatte vorgesorgt, es gab wirklich etwas in dieser Kabine. Sie ging geradewegs zu einem verborgenen Schrankfach und registrierte zufrieden Sternfeuers erstaunten Blick. Das Mädchen wusste nichts von diesem Versteck. In einem Fach dieser Art, das schmal und fast unsichtbar zwischen zwei Schrankelementen steckte, ließ sich allerdings auch nicht viel unterbringen. Die Mutantin holte ein flaches Päckchen dünner Folien daraus hervor.
»Was ist das?«, fragte Sternfeuer neugierig.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Kotschistowa wahrheitsgemäß. »Torboros bat mich, es nicht zu öffnen. Es sind private Unterlagen.« Sie steckte das Päckchen ein und wandte sich zu Sternfeuer um.
»Du siehst gut aus«, stellte sie fest. »Aber du wirkst trotzdem traurig. Was ist los?«
»Ich bin nicht traurig«, flüsterte Sternfeuer und kämpfte hartnäckig gegen die Tränen an. Als die Mutantin den rechten Arm um die Schultern des Mädchens legte, war es mit Sternfeuers Selbstdisziplin vorbei.
Irmina Kotschistowa stand ganz still und ließ das Mädchen weinen. Sie war grenzenlos erleichtert, denn es schien, als sei wirklich alles ganz einfach. Sternfeuer hatte Kummer, und der würde sich legen.
Das Mädchen beruhigte sich überraschend schnell. Die Mutantin fragte nach allerlei alltäglichen Dingen, und sie beobachtete zufrieden, dass Sternfeuer allmählich zu ihrem normalen Verhalten zurückfand. Da es in der kahlen Kabine alles
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