Silberband 107 - Murcons Vermächtnis
hielt, war ein farbloser, elastischer Schlauch von etwas mehr als einem Meter Länge und einem Durchmesser von nicht mehr als sechzehn Zentimetern. Der Schlauch war zu zwei Dritteln mit einer zähflüssigen, honiggelben Masse gefüllt. Seine Enden waren gerundet, an einem befand sich, im Innern, ein Gerät mit dem Aussehen eines Zifferblatts. Auf gelbem Hintergrund wies eine rote Linie senkrecht nach oben. Vor kurzer Zeit hatte die Linie begonnen, nach rechts zu wandern. Sie färbte die Fläche, die sie bereits durchwandert hatte, blutig rot. Der Quellmeister konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass diese Uhr Aufschluss darüber gab, wie lange die Masse innerhalb des Schlauchs noch am Leben erhalten werden konnte.
Er nahm den durchsichtigen Schlauch auf – er ließ sich leicht um den Organkranz schlingen und glitt an der Seite der reglosen Bestie hinab. In der Nähe des linken Vorderbeins erreichte er den Boden. Er blickte zur Seite und machte eine sinnverwirrende Beobachtung.
Kukelstuuhr hatte im Todeskampf noch einen der frevlerischen Angreifer gepackt. Er hing zwischen den Hälften des riesigen Schnabels, den Körper halb zerquetscht. Aber noch lebte er. Pankha-Skrin näherte sich dem Unglücklichen. Es war Awustor. Er hatte seine Tollkühnheit auf bittere Weise gebüßt.
»Nicht wahr, du bist Arqualov?«, fragte der Quellmeister.
Arqualovs Blick wandte sich müde der fremden Gestalt zu.
»Bist du der, der mich zweimal verscheucht hat?«, wollte er wissen.
»Ich habe dich nie zu Gesicht bekommen«, antwortete Pankha-Skrin. »Aber da du von einer zweimaligen Begegnung redest, muss ich es wohl gewesen sein.«
Arqualov, im Körper des Priesters Awustor, gab ein qualvolles Ächzen von sich. »Irritt …«, stieß er hervor und versuchte, den Arm zu einer Geste zu erheben.
Mitten in der Bewegung ereilte ihn der Tod. Pankha-Skrin verstand zunächst nicht, was er gemeint hatte. Dann aber blickte er an dem mächtigen Leib der Bestie empor und erinnerte sich, dass Murcon in seinem Bericht über die Geschichte der Burg von dem Ungeheuer Kukelstuuhr nie gesprochen hatte. In diesem Augenblick verstand der Quellmeister, dass Kukelstuuhr allein zu dem Zweck erschaffen worden war, dem Mächtigen Murcon das Überleben zu ermöglichen, und dass zur Belebung des Ungeheuers ein lebendes Bewusstsein erforderlich gewesen war – das der Freibeuterin Irritt.
Murcon hatte fürchterliche Rache genommen.
Pankha-Skrin wandte sich ab. Er hörte lautes Rufen aus der Spalte ›das Murcon‹. Gleichzeitig spürte er von Neuem ungewöhnlich intensive Mentalimpulse. Sie schienen aus dem schlauchförmigen Behälter zu kommen. Wenn sich im Innern des Schlauches wirklich Murcons Überreste befanden, dann versuchte der ehemals Mächtige verzweifelt, mit dem Loower in mentalen Kontakt zu treten.
Oder war es denkbar, dass die Impulse eine völlig andere Bedeutung hatten?
Für Pankha-Skrin war plötzlich von erheblichem Interesse, was sich jenseits des Spalts befand. Er setzte sich dorthin in Bewegung. Das Rufen und Schreien war lauter geworden. Arqualovs Begleiter, die in den Spalt eingedrungen waren, als Kukelstuuhr stürzte, mussten etwas gefunden haben, was sie in Erregung versetzte.
Pankha-Skrin kam indes nicht weit. Nach wenigen Schritten stieß er auf eine Gestalt, die halb unter den Fleisch- und Hautmassen des Ungeheuers Kukelstuuhr begraben lag.
Der Quellmeister stutzte. Dann beugte er sich nieder.
»Tantha, mein Freund …!«, murmelte er ungläubig.
Der Humpelnde hatte die Augen offen. Aus seinem rechten Mundwinkel war Blut geronnen und auf der faltigen Haut eingetrocknet. Tanthas Augen waren trüb. Pankha-Skrin sah, dass er dem Tod gegenüberstand.
»Es scheint, es hat sich ausgehumpelt«, sagte Tantha schwach und versuchte ein spöttisches Lächeln. »Ich dachte, ich wäre so schlau. Aber ich hatte nicht genug Verstand, dem Ungeheuer auszuweichen, als es zusammenbrach.«
Der Schmerz verzerrte sein Gesicht.
»Das Volk der Loower wird deiner immer gedenken«, sagte der Quellmeister ergriffen. »Du warst der treueste der Freunde, denen ich in der Fremde begegnet bin.«
Des Humpelnden Tantha trüber Blick fiel auf den Schlauch, den Pankha-Skrin über den Schultern trug.
»Was ist das? Es stammt aus der Kuppel auf dem Rücken des Ungeheuers, nicht wahr?«
»Ich habe es dort herausgenommen. Ich vermute, dass es sich um Murcons Überreste handelt. Er fürchtete sich vor den Rächern und glaubte, er könne ihnen
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