Silberband 108 - Grenze im Nichts
hatte Tengri Lethos diese Zeit nicht bewusst erlebt. Seine Eltern hatten ihn gleich nach der Zeugung einer Maschinerie anvertraut, die seine weitere biologische Entwicklung steuerte und ihn zum Zeitpunkt der körperlichen und geistigen Reife in einen Tiefschlaf versetzte. Die Programmierung hatte ihn erst geweckt, als in der Nähe des Ewigkeitsschiffs Wesen auftauchten, die über paranormale Fähigkeiten verfügten. Das war im Jahre 2406 terranischer Zeitrechnung geschehen, als terranische Mutanten in der Schlussphase des Kampfes gegen die Meister der Insel in Andromeda das Ewigkeitsschiff entdeckten. Seitdem war Tengri Lethos unterwegs durch zahlreiche Galaxien und Dimensionen, um als Hüter des Lichts Fehlentwicklungen zu verhindern.
So wie Tengri Lethos mussten in anderen Bereichen des Universums andere Hüter des Lichts existieren – wie er die Nachkommen derer von Hathor. Auch sie arbeiteten allein und blieben einsam, selbst wenn sie hin und wieder für begrenzte Zeit Helfer aus fortgeschrittenen Kulturen unterrichteten und einsetzten.
Zurzeit befand sich Tengri Lethos in der Galaxis Chjenjenya, um Kontakt mit den Bewohnern des Planeten Luria aufzunehmen. Die Lurianer hatten nicht nur eine fortgeschrittene Zivilisation entwickelt, sie hatten es auch mit Lethos' Hilfe geschafft, mit friedlichen Mitteln einen verheerenden Krieg zwischen den beiden größten Sternenreichen Chjenjenyas zu beenden und die Saat für eine galaktische Gemeinschaftszivilisation zu legen.
Nun reagierten die Lurianer nicht.
»Was mag sie daran hindern, mir zu antworten?«, fragte Tengri Lethos das Semorgehirn, das für ihn nicht Diener, sondern Partner war.
»Wir sind siebzehntausend Lichtjahre von Luria entfernt«, erklärte das Gehirn. »Die Anwesenheit fremder Machtmittel auf diesem Planeten kann noch nicht erkannt werden.«
Es dauerte zwanzig Minuten, bis die grüne Sonne des Umiak-Systems in der Direktsicht als kleiner Punkt zu sehen war. Das Ewigkeitsschiff verringerte die Zahl seiner Transmissionen pro Zeiteinheit und gleichzeitig die Länge der Intermittersprünge. Schließlich schaltete es auf den Feldantrieb für Kurzstreckenflüge um.
In der Datenprojektion zeigte das Semorgehirn fortlaufend alle Auswertungen der Ortungsanlagen. Der Hathor blieb unbewegt, obwohl in seinem Innern ein Gefühlssturm tobte.
»Weder auf Luria noch auf seinen beiden Monden gibt es intelligentes Leben«, erkannte er. »Da wir nicht in der Zeit zurückgegangen sind, bedeutet dies, dass die Zivilisation der Lurianer nicht mehr existiert. Entweder sind sie ausgewandert oder gestorben.«
»Es hat keine Invasion stattgefunden«, erklärte das Semorgehirn.
»Auch keine virulenten Erreger?«
»Nichts dergleichen.«
»Ich gehe nach Nurgaa«, sagte der Hüter des Lichts. »Führe das Schiff in einen stationären Orbit!«
Nurgaa war die Hauptstadt des Planeten. Tengri Lethos wartete die Bestätigung des Gehirns ab, dann konzentrierte er sich auf die Schaltung des Spontantransmitters, der ein Teil seiner im Kombigürtel untergebrachten Ausrüstung war.
Der Transmitter wurde aktiviert, errechnete die Koordinaten des angegebenen Zieles und versetzte sich und Lethos durch den Raum. Der Hüter des Lichts materialisierte auf einem großen Platz in Nurgaa.
Tengri Lethos erinnerte sich lebhaft an seinen letzten Besuch in Nurgaa. Aus den schmalen Wohngebäuden, die den Platz gleich einem hohen Ring umgaben, waren Tausende Lurianer gekommen. Sie hatten sich mit der für sie typischen Wellenbewegung herangeschoben, ovalen Pfannkuchen aus gallertartiger Masse gleichend.
Was war aus ihnen geworden?
Der Hathor sah zartgrün angehauchte Wolkenschleier über den Himmel streichen. Ein Nurflügler zog darunter seine Kreise.
Lethos ging auf den Ring der Wohnbauten zu. Die Häuser der Lurianer waren unzugänglich für ihn, Ein- und Ausgänge waren nur rechteckige Schlitze von rund achtzig Zentimetern Länge und vierzig Zentimetern Höhe. Er hätte hineinkriechen können, aber die dahinter liegenden Antigravschächte verengten sich bis auf einen Durchmesser von zehn Zentimetern – und jemand mit einem Knochenskelett konnte sich bei größter Mühe nicht so schmal machen wie ein Lebewesen aus knochenloser Körpermasse.
Der Hüter des Lichts war nie in einem Wohnhaus der Lurianer gewesen, er wusste, dass sie die Anwendung von Transmittern in Wohngebäuden für unanständig hielten. Diesmal aber blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mit seinem
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