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Silberfischchen

Titel: Silberfischchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inger-Maria Mahlke
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kippen, er öffnete es weit. Winterluft fuhr in seine Pyjamaärmel,
     in den Kragen, über sein Gesicht, roch schal nach Kohleofen und Schnee, eine Gänsehaut wanderte unter seinen Haaren hindurch
     in den Nacken und weiter den Rücken hinab.
    Auf der Straße schabte ein Mann mit einem Eiskratzer Schnee von seinem Auto, das Plastik erzeugte schmerzhaft hohe Töne auf
     dem Glas. Die Bewegungen des Mannes wurden schneller, den Mantel hatte er nicht zugeknöpft, Schnee sammelte sich in den braunen
     Falten seines Anzugs. Als der Mann es bemerkte, warf er den Schaber weg, klopfte die Falten aus und schrie laut »Scheiße«.
    Er schloss das Fenster, der Boden der Dusche war nass, das Bad roch noch leicht nach Zitrone. Er stellte sich unter den Duschkopf,
     bevor er das Wasser aufdrehte, »jeder Tropfen kostet«, sagte Mutter in seinem Kopf, er biss die Zähne zusammen. Es gab kein
     Bild für heute, er sah zu Boden, drehte langsam den Hahn |49| auf, wartete. Er konnte nicht fahren. Die plötzliche Kälte presste einen Laut aus ihm heraus, hell und keuchend. Ruckartig
     sogen seine Lungenflügel Luft ein, stießen aus, sogen ein. Die Wärme kam langsam, er legte den Kopf in den Nacken, Wasser
     floss über sein Gesicht. Er könnte die Lampe im Flur säubern, das Schalental ausfegen, die Insektenschatten wegwischen. Die
     Seife war trocken, Frau Potulski hatte sie nicht benutzt. Er könnte die Leiter holen, die Glasschale abschrauben, sie zum
     Mülleimer tragen, nein. Er wusch seine Haare, auch wenn nicht Samstag war, die Seife brannte in seinen Augen. Er könnte eine
     Plastiktüte mitnehmen, sie in die Tasche seiner Cordhose stecken, die Plastiktüte über das Schalental ziehen, alles ausschütten
     und mit einem feuchten Lappen die Reste aufnehmen.
    Er brüllte auf. Brüllte, denn der Wasserstrahl, der die Seife zwischen den Schulterblättern wegspülte, wurde kalt, plötzlich
     kalt, die letzten warmen Tropfen rannen noch über seinen Steiß. Er sprang nach vorne, sein Knie schlug dumpf gegen die Kacheln.
     »Frau Potulski« – das warme Wasser – »Frau Potulski.« Sie musste in der Küche das warme Wasser aufgedreht haben. »Frau Potulski«
     prallte gegen die nassen Kacheln und zurück in die Dusche und wurde unter Tropfen begraben. Er tastete nach dem Duschkopf,
     wollte ihn aus der Halterung ziehen, auf die Wand richten, das Wasser wurde wärmer. Die Seife war ihm aus der Hand gefallen,
     sie lag auf dem Abfluss.
     
    |50| Frau Potulski streckte ihm eine Kehrschaufel entgegen, als er aus dem Bad kam, die Kehrschaufel gefüllt mit Staubflusen.
    »Das war nur unter dem Sofa.«
    Er antwortete nicht, sah nur auf die Schaufel hinab, wolliggrau, mit Krümeln dazwischen. Verwahrlost, er konnte sich genau
     an den Moment erinnern, an dem ihm klargeworden war, das es das war, was mit ihm geschehen würde, wenn er nicht achtgab.
     
    Er konnte sich an die glänzenden, eiweißfarbenen Warmhalteschalen vom Imbiss erinnern, die er auf dem Couchtisch zu einem
     Turm gestapelt hatte. An die Mineralwasserflaschen, neun waren es, die er neben der Armlehne der Couch zu einem ordentlichen
     Quadrat zusammengestellt hatte. Eine nach der anderen hatte er aus dem Vorratsraum neben der Terrassentür geholt. Als der
     Kasten leer war, hatte er sie mit Leitungswasser aus dem Gästebad aufgefüllt. Er nahm nie die gleiche Flasche zweimal, erst
     benutzte er reihum die Außenseiten des Quadrates, dann die in der Mitte. Die Flasche in der Mitte war ihm aus unerfindlichen
     Gründen am liebsten gewesen.
    Abends hatte er ferngesehen mit den Füßen auf ihrem Couchtisch, die Fersen auf der Fernsehzeitung. Aneurysma, Aussackung,
     es juckte unter der Schädeldecke, wenn er die Worte dachte, Aneurysma, Aussackung. In die Küche war er nur noch gegangen,
     um sich vor dem Dienst Kaffee zu kochen. Er wartete neben der Maschine, sah in den Garten hinaus, bis er durchgelaufen war.
     Die Tassen in der Spüle, die aus den |51| Tagen stammten, an denen es noch Milch gegeben hatte, wurden allmählich von einer pulvrig orangen Schimmelschicht überzogen.
     Die neueren, aus denen er den Kaffee schwarz getrunken hatte, verfärbten sich erst modrig grün und trockneten dann aus.
    Er kniff die Lider zusammen, es war sehr hell.
    »Wo sind die Vorhänge?«
    »In der Schmutzwäschetruhe«, antwortete sie, schon auf dem Weg in die Küche. Er ging ins Schlafzimmer, sich anziehen, sein
     Frühstücksgeschirr hatte sie abgeholt, das Bett gemacht, das Fenster

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